Werke von Joseph Ryelandt, Paul Hindemith und Rebecca Clarke

1919

Marion Leleu (Viola), Bertrand Giraud (Klavier)

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Solo musica
erschienen in: das Orchester 5/2023 , Seite 71

„Der Bestseller dieser Tage muss eine Jahreszahl im Titel haben, dann verkauft er sich von selbst“, erkannte der Berliner Tagesspiegel schon im Jahr 2013. Damals ging es um Bücher von Florian Illies (1913. Der Sommer des Jahrhunderts) und Adam Zamoyski (1812. Napoleons Feldzug in Russland). Es folgten zahlreiche andere mit Jahreszahlen wie 1815, 1900 oder schlicht ’45. Im Reich der CD-Veröffentlichungen findet sich ein vergleichbarer Trend, wie ein Blick in die Liste der Neuerscheinungen aus dem Jahr 2022 zeigt: Mit dem Erödy-Chamber Orchestra geht’s ins Jahr 1948, Valentina Lisitsa spielt Klaviermusik aus dem Jahr 1908, eine CD mit dem Titel Vienna 1913 rückt Musik von Alban Berg und Egon Kornauth in den Fokus, und das Jahr 1919 beleuchten Marion Leleu (Viola) und Bertrand Giraud (Klavier).
Ihnen reicht die Zahl „1919“ als (recht oberflächliche) Klammer für Werke zweier Komponisten (Joseph Ryelandt und Paul Hindemith) sowie einer Komponistin (Rebecca Clarke). Die drei verbinde, so schreibt Marion Leleu im Programmheft, „ihre musikalische Inspiration und ihr musikalischer Einfallsreichtum“. Und natürlich die Tatsache, dass die Werke aus dem Jahr 1919 stammen, dem Jahr, das mit den Champs magnétiques das erste Werk hervorbrachte, das nach der surrealistischen Methode der „écriture automatique“ entstand. Der Gegensatz zur Sonate für Viola und Klavier von Joseph Ryelandt könnte allerdings kaum größer sein, schwelgt doch der Belgier mit Wonne im spätromantischen Stil. Mit komplexer motivischer Arbeit plagt er sich nicht ab, sondern setzt auf Wohlklang und gefühlvolle Melodik.
Das Duo Leleu/Giraud stürzt sich mit Verve und Leidenschaft in diese Musik und rückt die Schönheiten ins rechte Licht. Es legt zugleich eine Weltersteinspielung dieses Werks vor. Beim Namen Paul Hindemith könnte man vermuten, dass auf die Ryelandt’schen Gefälligkeiten ein avantgardistischer Kontrast aus der Feder des komponierenden „Bürgerschrecks“ folgen würde. Doch weit gefehlt: Seine frühe Sonate für Viola und Klavier wirkt wie eine feinsinnige und impressionistische Weiterentwicklung des Romantizismus von Ryelandt. Die Sonate für Viola und Klavier von Rebecca Clarke, längst ein Standardwerk im Violarepertoire, fasziniert durch raffinierte Harmonik und komplexe Rhythmik und folgt einem Modernitätsideal, das mehr mit Ravel, Debussy und Strawinsky als mit der Wiener Schule gemein hat. Leleu und Giraud erweisen sich auch hier als versierte und kluge Musiker:innen.
Die Aufnahmen entstanden im Studio von Stephen Paulello, der für seine innovativen Klavierkonstruktionen bekannt ist. Bertrand Giraud spielte für diese CD auf dem von Paulello vor einigen Jahren vorgestellten, 102 Tasten umfassenden Flügel mit dem Namen „Opus 102“, der durch eindrucksvolle Sonorität und Klangfarbenreichtum besticht.

Mathias Nofze