Justus H. Ulbricht (Gesamtredaktion)
150 Jahre Dresdner Philharmonie
Tradition und Innovation in Harmonie. Dresdner Hefte, 38. Jahrgang, Heft 143, 3/2020
Seit 2017 hat die Dresdner Philharmonie nach den umfassenden Sanierungs- und Erneuerungsarbeiten im Kulturpalast einen fürwahr tollen, akustisch perfekten und fashionablen Konzertsaal. Aber der Festakt am 29. November 2020 und die anspruchsvolle Festwoche zum Jubiläum des städtischen Orchesters, das immer selbstbewusster aus dem Schatten der Sächsischen Staatskapelle tritt, mussten wegen der Pandemie entfallen.
Dafür gibt es gleich zwei Dokumentationen zur bemerkenswerten Geschichte der Dresdner Philharmonie, die den Auftritt der städtischen Orchestervereinigung am 29. November 1870 zur Eröffnung des Konzertsaals im damaligen Gewerbehaus in der Ostra-Allee als ihren Gründungstag nennt. Das Orchester selbst veröffentlichte einen großen Band, in dem man zwischen einer „Kunst des Hörens in Bildern“ als Hommage an sein Publikum und einem Splitting des Leitbilds in „Facetten philharmonischer Arbeit“ viel Text und Material zur Geschichte des Klangkörpers findet.
Die Nummer 143 der „Dresdner Hefte“ ist im Vergleich leichter an Gewicht, Material und Gliederung und inhaltlich etwas kompakter, aber keineswegs weniger substanziell. Nur ein Autor erscheint in beiden Publikationen: Albrecht Dümling, der seine Beiträge den Jahren des Nationalsozialismus widmete.
Etwas ganz Wichtiges kommt beim Dresdner Geschichtsverein nach dem Interview mit der Or-chester-Intendantin Frauke Roth erst zum Schluss und kleingedruckt: Das Programmarchiv der Dresdner Philharmonie wurde digitalisiert und kann, koordiniert von der „Sächsischen Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB)“, auf www.sachsen.digital.de jederzeit zu Forschungszwecken oder zur Reaktivierung schöner Erinnerungen aufgerufen werden.
Eine aufschlussreiche Spannweite zeigt das Zitat von Marek Janowski aus seiner ersten Chefdirigenten-Ägide von 2000 bis 2004: Dresden und München seien die beiden einzigen Städte mit einem „unverkorksten Gefühl“ zur Musik. An anderer Stelle findet sich der unverhohlen kritische Kommentar eines Autors dazu, dass sich das Weiß-Grün der sächsischen Nationalflagge schon um 1995 zu stark ausgebreitet habe.
Zu lesen ist von den West-Gastspielen der Dresdner Philharmonie während entscheidender Zäsuren zu Beginn der Friedlichen Revolution und des Mauerfalls 1989 und 1990 sowie von den Herausforderungen für das System durch die Uraufführung von Friedrich Schenkers Sinfonie In Memoriam Martin Luther King (1971). Die Trias von Christine Mielitz’ Fidelio-Inszenierung in der Semperoper, Klaus Dieter Kirsts Regie von Christoph Heins Ritter der Tafelrunde im Schauspiel und die Aufführung von Beethovens Neunter der Dresdner Philharmonie waren die drei essenziellen Beiträge aus den Reihen der klassischen Musik zur Wendezeit in Dresden.
Roland Dippel