Irvine Arditti

101 Geschichten eines reisenden Musikers

Rubrik: Rezension
Verlag/Label: Schott, Mainz
erschienen in: das Orchester 2/2025 , Seite 67

Irvine Arditti kann man mit Fug und Recht als einen Vielflieger bezeichnen. Der Gründer und Leiter des Arditti-Quartetts hat mehr als 3500 Flüge hinter sich, in manchen Jahren war er im Schnitt alle drei Tage auf einem Flughafen. Kein Wunder, dass er so manches zu erzählen weiß. 101 Geschichten hat er in seinem neuen Büchlein gesammelt – Geschichten aus einem reichen Mu­siker­leben, mit denen Irvine Arditti seine Leserschaft rund um die Welt führt.
Arditti erzählt von Konzertaufnahmen in den berühmten Abbey-Road-Studios und vom explodierenden Cellobogen – oder von seinen Schwierigkeiten, seine bei der Einreise versehentlich nicht registrierte Geige aus Moskau wieder auszuführen. Er erinnert sich an Begegnungen mit Komponisten wie Conlon Nancarrow, Pierre Boulez oder Elliott Carter und an einen Auftritt in Wien, wo der Komponist Gerhard Winkler vor lauter Aufregung mit einem akrobatischen Satz auf die hohe Bühne sprang und prompt stürzte. Es sind kleine Begebenheiten, die Irvine Arditti auf charmante Weise präsentiert und die nicht nur Einblicke in den Alltag eines Musikers geben, sondern auch die Frage thematisieren, wie zeitgenössische Musik wahrgenommen wird und wo sie ihr Publikum findet.
Denn für das Arditti-Quartett, das sich auf Neue Musik spezialisiert hat, war es gerade in den Anfangszeiten nicht ungewöhnlich, vor leeren Rängen zu spielen. Irvine Arditti schwor sich damals, dass seine Musiker, sollten einmal weniger Menschen im Publikum als auf der Bühne sein, nicht spielen, sondern die Leute zum Essen einladen würden. Auch in den folgenden Jahren, als das Arditti-Quartett bekannter wurde, stieß die Neue Musik vielfach auf Unverständnis. So erkundigte sich ein Ohrenarzt, den der Cellist aufsuchte, ob er ihm wirklich die Ohren reinigen sollte, als er erfuhr, dass sein Patient zeitgenössische Musik spielte. „Die Verunglimpfung zeitgenössischer Musik beschränkte sich keineswegs auf Nichtmusiker“, schreibt Arditti: „Ich begegnete vielen Musikern […], die sie nicht nur nicht ernst nahmen, sondern auch die Notwendigkeit einer akkuraten Aufführung von Musik in Frage stellten, wenn das Publikum nicht unterscheiden konnte, ob sie richtig oder falsch gespielt wurde.“ Und er berichtet von kuriosen Auswüchsen der Neuen Musik, wenn etwa ein Stück darauf beruht, dass eine Geige zerbrochen wird oder der Schlagzeuger mit einem Schweißbrenner hantieren muss.
So entsteht ein reizvoller Streifzug durch die Welt der Neuen Musik, einer oft unverstandenen Kunstform, die das Arditti-Quartett mit viel Beharrlichkeit ins Bewusstsein der Öffentlichkeit holt. „Meine Aufgabe“, schreibt Irvine Arditti, „ist es, die Musik von heute zu spielen, die sofort Geschichte wird, wenn sie sich ereignet.“
Irene Binal