Kent Nagano/Inge Kloepfer

10 Lessons of My Life. Was wirklich zählt

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Berlin Verlag
erschienen in: das Orchester 1/2022 , Seite 66

Die Keimzelle dieses Bands war ein moderiertes Gespräch in der American Academy am Berliner Wannsee. Entstanden ist eine Hommage des Generalmusikdirektors der Hamburgischen Staatsoper an zehn Persönlichkeiten, von denen er entscheidende Impulse für sein Leben erhielt. Kent Nagano hatte das Glück, in Inge Kloepfer für dieses Projekt eine redigierende Co-Autorin an seiner Seite zu haben, deren ergänzende Informationen, biografische Details und Hintergrundinformationen nicht mehr Gewicht geben als nötig.
Vor einigen Jahren veröffentlichten Nagano und Kloepfer mit dem Band Erwarten Sie Wunder!: Expect the Unexpected ein leidenschaftliches Plädoyer für die klassische Musik, Orchester und deren Relevanz in Zivilgesellschaften heute. Jetzt geht es um intensive Begegnungen und Freundschaften auf Naganos Weg von seinen Anfängen als Korrepetitor in Boston über Assistenzen in Paris bis hin zu entscheidenden Begegnungen an der Opéra de Lyon und der Bayerischen Staatsoper München.
Nagano und Kloepfer gelingt es, eine Workaholic wie Sarah Caldwell, ehemalige Leiterin der Opera Company of Boston, als starkes Individuum hinter ihrer vampirischen Obsession zu würdigen. Am spannendsten wird es sicher, wenn Nagano sich an Begegnungen mit Leonard Bernstein und Richard Trimborn, dem inzwischen legendären Studienleiter der Bayerischen Staatsoper München, erinnert. Mit letzterem verdichtete Nagano seine Auseinandersetzung mit Wagner. Aber er erhielt keine Interpretationsrezepte oder goldenen Regeln für die richtige Interpretation, sondern die Motivation und den Mut, Fragen an das Werk zu stellen.
Auch bei einer Analysestunde mit Bernstein lernte Nagano, dass Fragen an die Partitur ein erweitertes Erkenntnispotenzial ermöglichen – und mangelnde Antwortgewissheit eine künstlerische Motivation bedeutet. Nagano rekapituliert extraordinäre Sternstunden wie die Zusammenarbeit mit der isländischen Pop-Ikone Björk in Schönbergs Pierrot lunaire beim Verbier Festival 1996 und den Coup seiner Empfehlung durch Olivier Messiaen für die Assistenz bei der Einstudierung zur Uraufführung von dessen einziger Oper Saint François d’Assise an der Pariser Oper 1983.
Aufschlussreich sind die kritischen Anmerkungen zur historisch informierten Aufführungspraxis von Pierre Boulez, der bei Aufführungen eigener Werke den geschulten Zugriff der Interpreten mehr würdigte als zeitaufwändiges Suchen nach Tönen und Harmonien während herausfordernder Uraufführungsvorbereitungen. Nagano bewundert Frank Zappas ernsthaften Aufbruch Richtung avancierte Orchestermusik und freut sich noch immer über das vom damaligen Intendanten Jean-Pierre Brossmann initiierte Amerika-Gastspiel der im internationalen Operngeschehen um 1990 noch kaum renommierten Opéra de Lyon.
Respektvolle und liebevolle Erinnerungen widmet Nagano dem Pianisten Alfred Brendel und vor allem dem Einsatz der Ausnahme-Pianistin Yvonne Loriod für das Lebenswerk ihres Ehemannes Olivier Messiaen.
Roland Dippel