Wolfgang Stendel

1. Sinfonie

für Orchester, Studienpartitur

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Verlag Neue Musik
erschienen in: das Orchester 04/2021 , Seite 63

453 Takte Farben, Kontraste, Entspannung und Höhepunkte liefert die 1. Sinfonie von Wolfgang Stendel. Geschaffen im Jahr 1972, zeigt sie Stendel (*1943) als selbstbewussten jungen Komponisten, als Meisterschüler, der schon bald einen eigenen Lehrauftrag an der Universität Halle erhalten sollte, Anfang der 1980er Jahre jedoch als freischaffender Komponist tätig werden wird. Der Verlag Neue Musik hat nun eine neue schlanke Studienausgabe dieser Sinfonie vorgelegt. Eine kurze Biografie Stendels sowie eine Liste seiner fast vierzig im Verlag Neue Musik erschienenen Werke am Ende der Ausgabe, eine knappe Besetzungsliste zu Beginn: keine Einführung, kein auffallendes, progressives Layout – stattdessen Noten, Noten, Noten. Los geht es.
Das Orchester ist groß besetzt. Stendel nutzt die konventionelle Palette des Klangkörpers und verzichtet auf sportliche neue Spieltechniken. In ruhigem Tempo starten die Streicher mit wenigen Pizzicato-Tönen, die von der ersten Geige bis zum Bass nacheinander durch alle Pulte gezupft werden und so eine zarte Melodie, an die Dodekafonie des frühen 20. Jahrhunderts erinnernd, entstehen lassen. Nach wenigen Takten dürfen die Holzbläser ihr Tongeflecht mit genau notierter, kontrastreicher Dynamik ertönen lassen, die Streicher kommen bald schon mit ersten gestrichenen Tönen dazu, bereichert um die Harfe. Das Blech schweigt noch, die kleine Trommel würzt mit wenigen Akzenten. Nachdem endlich auch Trompeten und Posaunen ihre Einwürfe spielen durften, bricht das Getümmel ab, lässt Raum für einen kurzen solistischen Harfenlauf. Die Harfe hält anschließend ein paar Takte lang allein Töne, befeuert von extrem sparsamen Einwürfen der Flöten, Trompeten und Posaunen.
Stendel kitzelt Kontraste aus dem Apparat des Sinfonieorchesters, lässt es lange ruhig und sparsam instrumentiert, dann aber mit langen Tönen und vielen Sforzati plötzlich für kurze Zeit im Tutti krachend – alle spielen dabei denselben Rhythmus, ein hübsch bunter Effekt. Es folgen erneut Phasen der Entspannung, des Geflechts, temperamentvoller Tonrepetitionen. Aber auch dieses vorgebliche Ungestüm ist streng kalkuliert, Taktwechsel deuten neue Phasen an. Die Sinfonie endet sehr leise, wie ausgeblendet. Dieses Verklingen kann reizvoll wirken und die Musik dadurch lange in den Ohren der Zuhörer nachklingen lassen.
Bach, Brahms und Bruckner sollen Stendel schon als Schüler beeindruckt haben. Deren Werke lernte er beim Madgeburger Domchor kennen, später setzte er sich mit der Zweiten Wiener Schule auseinander. „Mir ist es wesentlich, dass Musik einen bestimmten Grad der Verwandtschaft mit den alten Schönheiten aufweist“, wird Stendel in dieser Ausgabe in der Kurzbiografie zitiert.
Mit dieser Neuausgabe der 1. Sinfonie liegt ein Stück Geschichte der Neuen Musik der DDR und eine frisch und jugendlich anmutende Erstlingssinfonie zugleich vor. Sicher auch heute noch eine Bereicherung des Spielplans, vielleicht sogar in Kombination mit Bach, Brahms oder Bruckner.
Heike Eickhoff