Verena Mogl

„Juden, die ins Lied sich retten“

Der Komponist Mieczyslaw Weinberg (1919-1996) in der Sowjetunion

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Waxmann
erschienen in: das Orchester 05/2018 , Seite 61

Endlich: ein gewichtiger Band zu einem lange Unterschätzten, ja Unbekannten. Drei Erdenreste mindern die Lese- und Studierfreude: In den 442 Textseiten werden die Historie und Leistung der Bregenzer Festspiele und ihres Intendanten David Pountney um die Wiederentdeckung von Weinbergs singulärem Musikdrama Die Passagierin 2010 viel zu wenig gewürdigt; schon ein Gespräch mit Pountney hätte da etliche Leerstellen getilgt – denn erst danach begann die Welle der Neuentdeckung; die preisgekrönte DVD wird nicht erwähnt.
Auch drei wesentliche Bühnenwerke werden befremdlicherweise nicht behandelt und analysiert: die Oper Lady Magnesia op. 112 nach George Bernard Shaw von 1975, die Oper Das Porträt op. 128 nach Nikolai Gogol von 1980 und insbesondere die nach der Mannheimer Uraufführung 2013 hochgelobte Oper Der Idiot op. 144 von 1985 nach Fjodor Dostojewski.
Und dann findet sich in dem sachlich gut formulierten Text mehrfach die Autorin selbst mit „Ich…“ und „Meine…“ – gehört so etwas nicht höchstens in die Fußnoten? Zu wenig lektorierter Dissertationstonfall?
Doch ansonsten bietet der Eröffnungsband der Reihe „Musik und Diktatur“ allein schon auf 73 Seiten Anhang viel Gehaltvolles und Detailliertes zu Weinberg bis ins Jahr 2016. Sowohl der interessierte Musikfreund als auch der Kenner wird in dem behandelten Œuvre Unbekanntes und Erstaunliches finden: 22 Symphonien, Orchesterwerke, Kammerkonzerte, 17 Streichquartette, zahlreiche Lieder, Filmmusiken und kleinere Stücke – da wäre fast ein zweiter Band zu schreiben und zu füllen.
Notenbeispiele und Reproduktionen von zentralen Dokumenten ergänzen den Text – und der baut die westeuropäische Sprachhürde zu Polnisch und Russisch deutlich ab. Oft werden vertonte Text im Original und in deutscher, teils auch in englischer Übersetzung angeführt.
Mit all dem eröffnet sich der Blick auf ein Künstlerschicksal, in dem sich die meisten Wirren, Bedrohungen und Entsetzlichkeiten des 20.Jahrhunderts wiederfinden. Denn das Leben des polnischen Juden Weinberg ist zunächst vom mörderischen Nationalsozialismus bedroht: Eltern und Schwester werden ermordet; nach Weinbergs Flucht 1941 lebt er bis zu seinem Tod 1996 unter dem real lebensbedrohlichen Stalinismus und durchgängig vom russischen Antisemitismus bedroht. Aus Dankbarkeit für sein Überleben kehrt er aber nicht nach Polen zurück. Der westliche Leser erfährt von den miserabel hinterhältigen Winkelzügen und Verboten der Zensur – trotz Unterstützung durch Schostakowitsch oder Stars wie das Ehepaar Vish­newskaja-Rostropowitsch.
Inzwischen sind Weinbergs Werke zunehmend auf CD und DVD greifbar. Die posthume Gerechtigkeit der Kunst gewinnt gegenüber dem Schlachthaus der Geschichte, wozu auch dieser Band beiträgt.

Wolf-Dieter Peter