Winfried Michel

– Mitten –

über ein Lied Martin Luthers für Sopran und Streichtrio op. 75, 2 Partituren

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Mieroprint
erschienen in: das Orchester 05/2018 , Seite 66

Das Luther-Jahr ist vorüber, und doch hinterlässt der große Streitbare weiterhin seine unüberhörbaren Spuren in der Kompositionsgeschichte, ja, wird weitergeschrieben. Eines seiner bekannten Lieder gleichsam neu und doch unverkennbar an seiner musikalischen Originalgestalt orientiert in einem musikalischen Sprachgewand aus unserer Zeit, kompositorisch jedoch mit „altem Atem“ zu verknüpfen, ist ein faszinierendes Unterfangen.
Winfried Michel hat dies „in der augmentatio intervallorum einem aus dem gleichen Tonmaterial bestehenden Streichsatz zugeordnet“. Die Basis ist Mitten wir im Leben sind EKG 518, ein zweifellos sehr bekanntes Luther-Lied, das seine textlichen Wurzeln (Strophe 1) in Salzburg (1456) und bei Luther, seine melodiösen in Salzburg (1456) und bei Johann Walter (1524) hat, sowie „als flüchtiger Kontrapunkt“ den Cantus firmus Non moriar, sed viva in seiner Urgestalt.
In der Neu-Interpretation liegt eine teils ausnotierte, teils improvisatorisch zu handhabende kontemplative Beschäftigung mit dem höchst eindrucksvollen Text und der instrumentalen Klangebene vor, bei der die Sopranistin teils sprechend, teils singend in den kunstvollen Dialog mit einem Streichtrio tritt. Im Tonmaterial finden sich Spuren der Originalmelodie; immerhin so verfremdet, dass man genau hinhören darf. Bei genauerer Betrachtung trifft man auf den rhythmischen Grundduktus, findet melodiöse Reminiszenzen, staunt man über (dis-)harmonische Möglichkeiten, die eine spannende Metaebene zum Textgeschehen bilden.
In bester kammermusikalischer Manier tritt insbesondere in den Großtakten (28 und 44) die Singstimme in einen diffizilen Dialog: In Takt 28 gibt es imitatorische Möglichkeiten zur fugatohaften Zwiesprache aller vier Teilnehmer, wobei Sopran und Violine in enger Symbiose geführt werden. Takt 44 wird zur rezitativischen Atmosphäre: Während die Sopranistin auf festgelegten Tonhöhen hier aus dem Cantus firmus das „et narrabo opera Domini“ rezitiert, flüstern und spielen ihre Kammermusikpartner gleichzeitig.
Äußerst spannend erfährt in dieser Komposition der fragende, eigentlich sehr pessimistische Textansatz, der dann allerdings in EKG-Sicht die tröstliche Gewissheit auf Gottes bzw. Christi Erlösung enthält, eine Transformation hinüber in unsere keineswegs so glaubensstarke Weltsicht; das Zweifeln, die Zerrissenheit unserer Zeit, die vage Hoffnung auf ein doch hoffentlich „gutes“ Ende sind in einen exegetisch faszinierenden Diskurs geführt, der in der Intimität der Besetzung Streichtrio/Sopranistin eigentlich beinahe wie ein „Streichquartett mit Text“ wirkt. So kurz die Aufführungsdauer auch sein wird, ist doch die Intensität der Komposition beeindruckend.
Das fast melodramatisch konzipierte Werk endet in der Hoffnung, „in des bittren Todes Not“ nicht zu versinken, harmonisch offen – allein der Glaube, die Hoffnung bleibt. Unbedingt aufführen!
Christina Humenberger