Gott! Welch Dunkel hier
Die Stunde Null. Dresdner Opernszenen in ersten Rundfunkaufnahmen nach 1945, Semperoper Edition Vol. 1
Nach dem 13. Februar 1945 ist Dresden ein Trümmerfeld. Die bis dahin verschonte Stadt wurde in vier Angriffswellen zerstört, ein europäisches Kunstzentrum ausgelöscht, ein Volk wurde selbst Opfer des Krieges, den es verschuldet hatte. Diese Stunde Null brachte das Erwachen, das Entsetzen darüber, wohin sich das Land bewegt hatte. Diese Stunde Null bedeutete die absolute Hoffnungslosigkeit, das Gefühl, alles auf immer verloren zu haben. Diese Stunde Null brachte aber auch die Chance für den Neubeginn.
Nur zwei Monate nach Kriegsende nahm die Staatskapelle Dresden ihre Arbeit in improvisierten Konzertsälen unter Joseph Keilberth wieder auf auf erstaunlich hohem Niveau. Historische Rundfunkaufnahmen des Orchesters zwischen 1945 und 1951 zeichnen ein beeindruckendes akustisches Bild dieser Umbruchzeit im Ausnahmezustand nach. Restaurierte Tondokumente des Mitteldeutschen Rundfunks dieser Zeit sind in einer Box mit drei CDs und einer DVD zusammengestellt und begründen die neue Reihe Semperoper Edition und machen die Arbeiten von Dirigenten wie Rudolf Kempe, Kurt Striegler oder Joseph Keilberth wieder erlebbar. Sicherlich sind die Interpretationen des Sängerensembles für unsere Ohren heute recht gewöhnungsbedürftig, ihr Duktus uns mittlerweile fern dennoch rühren die Opernszenen seltsam an. Sei es die Arie des Cavaradossi oder die titelgebende Arie Gott! Welch Dunkel hier! aus dem Fidelio mit Hans Hopf unter Kurt Striegler, das Duett Aida/Amneris mit der jungen Christel Goltz und Helena Rott unter Rolf Kleinerts Dirigat oder Bernd Aldenhoff als Othello.
Auch löst die CD-Box ihr Versprechen ein, die charakteristischen Klangeindrücke der improvisierten Spielstätten der ersten Nachkriegsjahre akustisch nachvollziehbar zu machen: Tatsächlich werden die verschiedenen räumlichen Gegebenheiten Steinsaal des Hygienemuseums, Kurhaus Bühlau oder Sendesaal des Leipziger Funkhauses deutlich hörbar.
Das mit 240 Seiten außerordentlich umfangreiche zweisprachige Booklet ist überaus lesenswert und hochinformativ es breitet Zeitdokumente und Augenzeugenberichte aus und unterfüttert sie mit einer beinahe unüberschaubaren Fülle an Fakten. Eigentlich wird das Booklet mit seinem Mini-Format der Masse und hohen Qualität der Hintergrundinformationen nicht gerecht.
Die drei Tonträger tragen mehr als Ton: Sie tragen mit sich einen tiefen Eindruck dieser Zeit nach der großen Katastrophe, in der sich ausgehungerte Gestalten ausgehungert auch nach anspruchsvoller Ablenkung fiebernd vor Sehnsucht nach etwas Schönheit, wie sich Keilberth erinnert, durch die als Trümmerwüste daliegende Stadt aufmachten, einzig um Musik zu hören. Der Trost, der als möglicher Neubeginn der Stunde Null in dieser Musik schillert, wird in den historischen Aufnahmen in allen Szenen plastisch hörbar.
Florian Frisch