Sarah Nemtsov
dropped.drowned
für großes Orchester, Partitur
Sarah Nemtsov, preisgekrönte deutsche Komponistin und Oboistin, Meisterschülerin von Walter Zimmermann, war schon 2012 bei der Münchener Biennale vertreten und hat Aufführungen in Donaueschingen und Darmstadt vorzuweisen. Sie setzt sich intensiv vor allem mit englischsprachiger Literatur auseinander, so auch in ihrem jüngsten Werk, dem 17-minütigen Orchesterstück dropped. drowned, was übersetzt etwa versunken.ertrunken bedeutet.
Der Partitur voran steht ein Zitat von Janet Frame aus der Novelle Scented gardens for the blind. Darin geht es um die Angst der Menschen vor der Stille, die wie klares Wasser jedes Hindernis, übertragen verflossene Worte und Gedanken, sofort erkennen lasse, besonders die Konfrontation mit dem eigenen Spiegelbild verbreite Angst. Tiefenpsychologische, in poetische Bilder gegossene Emotionen bilden also den inhaltlichen Hintergrund der Komposition.
In der Musik ist allerdings Emotionalität zunächst sehr zurückgenommen. Die Ästhetik ist eindeutig der experimentellen Musik und Klangkomposition zuzurechnen. Teilweise sind auch Einflüsse der Spektralmusik zu erkennen, wenn ein einzelner Ton durch viele obertonreiche Klangfarben auskomponiert ist. Die Wirkung bleibt dadurch weitgehend abstrakt, formal fassbare musikalische Elemente sind zunächst schwer auszumachen, dennoch lassen sich drei voneinander unabhängige Abschnitte erkennen.
Im etwa die zeitliche Hälfte umfassenden ersten Teil dominieren viele kleingliedrige rhythmische repetitiv unregelmäßige Pattern, eine Vielzahl an Spieltechniken und -effekten, Verstimmungen, Mikrotonalität einschließlich des sehr diffizil präparierten Klaviers, alles in der Dynamik noch zurückhaltend.
Im zweiten Teil nehmen die dynamischen Kontraste zu, die Musik wird strukturell dichter und dramatischer. Die bisher ausgesparten Oboen und Trompeten, räumlich getrennt (Anweisung: stehen hinter dem Publikum oder seitlich einander gegenüber), treten in insgesamt sieben Abschnitten hinzu, kombiniert mit elektronischen Zuspielungen. Einzeltakte werden nun öfters mehrmals (4-7 Mal) wiederholt. Rhythmische bzw. motorische, teilweise ostinate Bewegungsmuster der Streicher, abwechselnd zwischen Achtel- und punktiertem Achtelpuls, bilden den Höhepunkt. Besonders ein am Ende dieses Abschnitts repetierter, durchgehend im Abstrich gespielter Akkord wirkt wie eine dezente Hommage an Strawinskys Le sacre du printemps.
Die letzten etwa zwei Minuten, senza misura überschrieben, formal der dritte Teil, werden dynamisch wieder äußerst zurückgenommen, an der Grenze zum Geräuschhaften, teilweise improvisatorisch, strukturell mehr und mehr verwischend.
Insgesamt beweist Nemtsov großes handwerkliches Können. Die Entwicklung der Komposition von reiner Abstraktion hin zu musikalisch konkreten und emotionalen Aussagen und wieder zurück hat durchaus Überzeugungskraft, auch wenn die rein klangästhetisch gearbeiteten Passagen einige Längen haben.
Kay Westermann