„Dirigieren verdirbt den Charakter…“

Musikeranekdoten, gesammelt und neu erzählt von Hans Martin Ulbrich

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Reclam, Stuttgart 2017
erschienen in: das Orchester 09/2017 , Seite 62

An Musikeranekdoten ist der Bedarf unerschöpflich, wie es scheint. Sammlungen wie Bernard Gruns Mit Takt und Taktstock oder Alexander Witeschniks Warten auf’s Hohe C bilden ein ebenso großes Reservoir wie Lebenserinnerungen von Musikern oder musikaffinen Persönlichkeiten. Beide finden sich unter den Literaturhinweisen dieser neuen Anthologie.
Bernard Haitink, der als Verfasser des Geleitworts gleichrangig neben dem Autor prunkt, nennt mit knappen, ja dürren Worten die Bedeutung des Heiteren und Nachdenklichen in Anekdoten. Doch Hans Martin Ulbrich, der unermüdliche Sammler und Texter, steht nicht auf dem Titel. Dabei hätte Ulbrich durch das Informationsspektrum seiner Ämter alle Voraussetzungen zu einer singulären Position für Orchestermusiker, wie sie sich Marcel Prawy als „Opernplaudertasche“ für Wien und die Welt eroberte. Denn in seinen Anekdoten geht es weniger um die faktische, viel mehr um die innere Wahrheit: Durch die Darstellung eines knapp umrissenen Moments und oft, aber nicht zwangsläufig, mit einer Pointe wird die Charaktermarke einer Persönlichkeit oder Situation bekräftigt.
Hans Martin Ulbrich wurde bereits von Rudolf Kempe gefördert, spielte 41 Jahre lang Englischhorn und Oboe im Tonhalle-Orchester Zürich, gründete 1975 das Bläseroktett „La Gran Partita“ und war lange Jahre organisatorischer Beauftragter des Lucerne Festival Orchestra. In den vergangenen Jahren engagiert er sich verstärkt für die Weiterbeschäftigung und die Nutzung der Erfahrungsressourcen reiferer Kollegen an den Orchesterpulten. Diesen Schwerpunkt merkt man in der Anekdotenauswahl.
Entsprechend weit reicht diese Kollektion bis zu Textgenre-„Klassikern“ wie dem vom Leierkastenmann, der sich Schüler von Giuseppe Verdi nennt, weil ihm dieser das korrekte Tempo der Tiefkühlpizza-Erkennungsmelodie La donna è mobile vororgelt. Und sie endet derart nah an der musikalischen Gegenwart, dass man glaubt, beim Wortwechsel zwischen der heute amtierenden Erfurter Generalmusikdirektorin und der Heidelberger Musiktheatersouffleuse die Beteiligten zu kennen oder zumindest bei deren Geplänkel dabei gewesen zu sein.
Himmel, wie die Zeit vergeht! Da tauchen Glenn Gould, Leonard Bernstein und Fabio Luisi in den Anfangsjahren auf. Bruno Maderna, Pierre Boulez und ebenbürtige Größen der Avantgarde werden vom Podest der intellektuellen Musikelite heruntergeholt. Natürlich schweift die Anthologie auch über den großen Teich zu den amerikanischen Spitzenklangkörpern, doch der Großteil der von Ulbrich gesammelten Histörchen ereignete sich an Schauplätzen in der Deutschschweiz und in deren Nachbarstaat mit der weltweit größten Theater- und Kulturorchesterdichte. Deshalb lässt sich die Sammlung auch gut als charmante, nicht auf Vollständigkeit bedachte Umschau lesen, die zeigt: Musiker verfügen nicht nur über Schlagtechnik, sondern auch Schlagfertigkeit.
Roland H. Dippel

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