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Ute Grundmann

„Die Kultur muss raus aus ihren Häusern!“

Kultur auf dem Land kann Avantgarde sein: Im Gespräch mit dem Politiker Rüdiger Koch

Rubrik: Thema
erschienen in: das Orchester 06/2018 , Seite 06

Kulturabbau allerorten? Nein, sagt Rüdiger Koch. Der langjährige Kulturdezernent und Bürgermeister der Landeshauptstadt Magdeburg hat entscheidend an einem Kulturentwicklungskonzept für den Landkreis Mansfeld-Südharz in Sachsen-Anhalt mitgewirkt. Der gilt mit einer Arbeitslosenquote von 13 Prozent (Januar 2017) und einem prognostizierten Bevölkerungsrückgang von 158222 (2007) auf nur noch 112000 im Jahr 2025 bundesweit als Problemregion.

„Kultur als Zukunftspotenzial“ – so lautet der Untertitel des Konzepts. Was macht Sie so zuversichtlich, dass Kultur das leisten kann?

Bisher hat man die Bedeutung der Kultur vor allem über die Umwegrentabilität berechnet, ihr also Bedeutung zugemessen, wenn sie sich rechnet. Das gilt auch für Kooperationen mit der Wirtschaft. Das nur so zu begründen, ist aber falsch. Kulturpolitik ist überhaupt kein harmloses Politikfeld, sondern ein wichtiges, vielleicht sogar das entscheidende im Hinblick auf unsere politische und gesellschaftliche Ordnung. Eine demokratische Kulturpolitik muss daher anstreben, zahlreiche Orte zu schaffen, in denen Menschen selbst für sich definieren können, wie sie leben wollen. So kann Kulturpolitik auch als Mentalitätspolitik verstanden werden, als Kampf um die Köpfe und Herzen der Menschen.

Kultur ist die Grundlage unserer Sozietät, nicht ein bloßes Angebot an die Gesellschaft.

Kultur ist die Grundlage unserer Sozietät, diese Dimension wurde bisher nicht hinreichend beachtet. Sie ist die Grundlage, nicht ein bloßes Angebot an die Gesellschaft. Wo ist die Stimme der Kultur im epochalen Veränderungsprozess, den wir erleben? Jetzt hat das Nachdenken darüber hörbar begonnen und da kommt auch der ländliche Raum mit in den Blick.

Warum braucht es Kulturentwicklungskonzepte gerade für diesen ländlichen Raum?
Die Erarbeitung von Kulturentwicklungskonzepten war in den zurückliegenden Jahrzehnten vor allem eine Angelegenheit der Großstädte oder bevölkerungsreichen Regionen. Kulturpolitik – als Gesellschaftspolitik verstanden – darf aber nicht zulassen, dass etwa die Hälfte unserer Bevölkerung, die außerhalb der Ballungsräume lebt, marginalisiert bleibt. Eine schrumpfende Bevölkerung, Armutsgefälle, Überalterung betreffen gerade im Osten Deutschlands die ländlichen Regionen. Gerade hier aber gibt es kulturelle Schätze, die gar nicht richtig wahrgenommen werden, auch weil in der Fläche das Personal fehlt, diese zu zeigen und zu erläutern. Wenn man das ändern und bestimmte Projekte auch realisieren kann, kann der ländliche Raum zum innovativen Ort, sogar zur Avantgarde werden.

Es geht darum, bei der bisherigen Übermacht der Metropolen die Wertschätzung des Eigenen zu erhöhen und mehr ins Gespräch zu bringen.

Ich habe die Befürchtung, wenn wir das nicht stärken, werden die Kultur-Identitären, die die Abschottung wollen mit ihrem „Wir haben die beste Kultur“, werden die Rechtspopulisten immer stärker. Deshalb ist es auch wichtig, einen Beitrag zum Diskurs zu leisten, ist es notwendig, die Erfahrungen überregional zu diskutieren, Anregungen zu geben und zu bekommen. Dazu müssen wir die Menschen mitnehmen, überzeugen, damit solche Ideen und Konzepte auch wirklich umgesetzt werden.

Wen muss man von der Wichtigkeit dieser Rolle der Kultur mehr überzeugen – die Politiker oder die Menschen in der Region?
Beide. Es ist oft so, dass man das Eigene gar nicht so sieht; die Verluste im Nachwendebereich waren sehr emotional. Es geht aber darum, bei der bisherigen Übermacht der Metropolen die Wertschätzung des Eigenen zu erhöhen und mehr ins Gespräch zu bringen. Vereine für sich sind dazu oft nicht in der Lage, auch weil sie dafür kein Personal haben. Und der Kultur fehlt oft die Stimme in Gemeinderäten oder Kreistagen. Da müssen wir Bewusstsein in der Region schaffen und unterstützen, das betrifft genauso die Politik: Eine Kultursprechstunde ist ja nicht neu, aber sie ist eine Empfehlung von uns, um sich die Nöte und Herausforderungen anzuhören und dann nach außen zu gehen.

Für das Konzept wurden drei Themen – Kultur im Wandel, Kultur und Bildung, Kultur und Kunst – sowie Fragen der Finanzierung entwickelt. Welche konkreten Maßnahmen werden danach für den ländlichen Raum vorgeschlagen?
Es gibt eine Vielzahl von Maßnahmen, die sich kurz-, mittel- oder langfristig umsetzen lassen. Man kann „Leuchttürme“ für ausgewählte Zielgruppen entwickeln, eine Tagungsreihe „Kultur im ländlichen Raum“ starten, Veranstaltungen an neuen und ungewöhn-
lichen Orten anbieten. Man sollte Angebote der Landkreise mit der Landeswerbung verknüpfen und die Industriekultur, an der die Region reich ist, stärker vermarkten. Touristische Routen lassen sich besser „inszenieren“, die Fremdsprachenkenntnisse der Mitarbeiter in Kultureinrichtungen sollten verbessert werden. Es braucht Plattformen sowohl für die Kulturträger der Region als auch für die Fördermöglichkeiten, eine Internet-Datenbank etwa. Die regionale Wirtschaft muss mehr einbezogen, Netzwerke und Beratungsstellen geschaffen werden. Eine überregionale Fachtagung zur „Bedeutung kleinerer Theaterstandorte im ländlichen Raum“ gab es im November 2017 in Eisleben. Ganz wichtig ist es, die Schulen einzubeziehen: mit Lehrerfortbildungen und generationsübergreifenden Angeboten. „KinderKulturTage“, „SchulKulturTüte“ und ein „SchülerKulturTicket“ sind weitere Ideen. Inklusion und Barrierefreiheit sind ebenfalls wichtige Themen.

Menschen im ländlichen Raum fühlen sich oft abgehängt, weil sie ohne Auto die nächstgrößere Stadt – und damit auch deren Kulturangebot – nicht erreichen können. Haben Sie das auch so erlebt?
Es gibt schon Beispiele, wo das besser gelingt, aber es reicht noch nicht aus. Man müsste manches von der Stadt aufs Land übertragen, die Thematik ist noch nicht zu Ende gedacht. Menschen vereinsamen, ziehen sich zurück, das Singletum nimmt zu – wie sehen da die Antworten der Kultur aus? Die Kultur muss raus aus ihren Häusern, sie kann nicht nur ein Teil des Marktes sein, die politische Stellung der Kultur als Grundlage des Daseins muss erkannt werden. Und sie darf nicht nur für Intellektuelle da sein, sondern für alle Bürger. Auch deshalb sind „Kulturbusse“, ähnlich den Theaterbussen, so wichtig. Und dass das SchülerKulturTicket auch am Wochenende gilt, ist auch ein wichtiger Schritt.

Lesen Sie weiter in Ausgabe 6/18.