Yun, Isang

An der Schwelle/Piri/Der weise Mann/Cello-Etüden II + V

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Internationale Isang Yun Gesellschaft IYG 004
erschienen in: das Orchester 11/2005 , Seite 95

Es war eine gute Idee der in Berlin ansässigen, rührigen Isang Yun Gesellschaft, zum 60. Jahrestag der Befreiung Deutschlands von der Naziherrschaft die 1979 auf Langspielplatte erschienenen Kantaten An der Schwelle und Der weise Mann nun auf CD zugänglich zu machen. Zumal der koreanische Komponist und Wahlberliner, selbst Opfer politischer Verfolgung und autoritärer Gewalt, der erstgenannten Kantate zwei Moabiter Sonette des Politgeografen Albrecht Haushofer zugrunde legte. Den Männern des 20. Juli nahe stehend, wurde er im Dezember 1944 verhaftet und im April 1945, während die Rote Armee auf die Mitte Berlins vorrückte, von SS-Schergen erschossen. In den Händen des Toten fand der eigene Bruder achtzig Gedichte, die dieser in der Einsamkeit seiner Zelle aufgezeichnet hatte. Seinem Gedenken ist die CD gewidmet.
„Das Ringen um Freiheit und Befreiung – innen wie außen“, schreibt Walter-Wolfgang Sparrer in seinen Werkerläuterungen, sei „ein Archetyp von Yuns Komponieren“. So stehen die Sonette, einem Bariton anvertraut, und die Bibeltexte, die ein meist in hoher Lage singender Frauenchor tröstend einschiebt, wortverständlich im Vordergrund. Wobei sich Yun jener Abstufungen zwischen Singen und Sprechen bedient, die wir von Schönberg kennen.
Im Schwanken zwischen Verzweiflung und bangem Hoffen, das sich in Haushofers Versen abzeichnet, mag Yun seine taoistische Denkwelt wiedererkannt haben, die sein Komponieren durchdringt und einer Versöhnung auf höherer Bewusstseinsebene entgegenstrebt. Der Baritonsolist Ernst Gerold Schramm, die Frauen des RIAS-Kammerchors, der ungarische Organist Zsigmond Szathmáry und das Solisten-Ensemble Berlin verhalfen dem Werk, das eine Stelle aus der so genannten Narrenrede des Apostels Paulus ins Zentrum rückt, im Januar 1979 in der Berliner Grunewaldkirche zu einer Aufzeichnung, die bis heute nichts von ihrer bewegenden Unmittelbarkeit eingebüßt hat.
Die Kantate Der weise Mann für Bariton, gemischten Chor und Kammerensemble nach Worten des Predigers Salomo und des altchinesischen Philosophen Lao-tzu komponierte Yun 1977 für den Ökumene-Abend des 17. Deutschen Evangelischen Kirchentags in der Deutschlandhalle. Es geht um das Gleichnis zum Verhältnis von Weisheit und Macht, um Ohnmacht und Nichtigkeit aller Weisheit. Zu Beginn stellen Solist und Chor dem Hörer ihre Rollen vor: Prediger und Stimme der Volksversammlung. In flirrenden Terz-Tremoli, Glockenspiel und Harfenklängen schimmert die Sonne. Ein Oboensolo führt in die Parabel von der kleinen Stadt ein, die zugrunde geht, weil niemand sich des armen weisen Mannes erinnert. Ein sinnendes Altflötensolo verweist auf die Worte Lao-tzus, die der Skepsis des Predigers Vorschub leisten – von Yun dramatisch auf den Höhepunkt getrieben. Die hier dokumentierte Vorproduktion der Uraufführung in der Christus-Kirche zu Berlin-Dahlem mit Carl-Heinz Müller (Bariton), Mitgliedern des Kammerchors Ernst Senff und dem Instrumentalensemble Berlin rechtfertigt die Wiederveröffentlichung in jeder Weise.
Instrumentalsolistische Beigabe dieser bedeutenden Vokalwerke: das bekannte Oboenstück Piri von 1971, wie es Heinz Holliger 1977 am 60. Geburtstag Isang Yuns in Basel aufnahm – ein spannendes Lehrstück seiner „Hauptklangtechnik“ – nebst zwei Cello-Etüden, die Yun 1993 (zwei Jahre vor seinem Tod) schrieb, neu aufgenommen mit der jungen, kongenialen Cellovirtuosin Myung-Jin Lee.
Lutz Lesle

Page Reader Press Enter to Read Page Content Out Loud Press Enter to Pause or Restart Reading Page Content Out Loud Press Enter to Stop Reading Page Content Out Loud Screen Reader Support