Schnittke, Alfred
Polka
für Streichquartett, Partitur und Stimmen
Schnittkes ausgeprägtes Bewusstsein für die musikalische Tradition ist hinlänglich bekannt. Verwunderlich ist es daher nicht, dass er sich auch den leichteren Gattungen angenommen hat, im vorliegenden Fall der Tanzmusik. Die Polka dürfte noch eine ganz spezielle Bedeutung für den gebürtigen Wolgadeutschen Alfred Schnittke besitzen: Die einstigen Einwanderer und Vorfahren des Komponisten waren es, die die Polka in Russland einführten.
Das Stück wurde verschiedentlich eingespielt, prominent durch Gidon Kremer. Als rasant oder auch als sehr schräg bezeichnet, wird die Komposition von Musikern und Kritikern hoch geschätzt und dies zu Recht, denn allzu selten nimmt sich ein hervorragender Komponist der Unterhaltungssphäre an. Schnittkes Qualität zeichnet sich bei der Polka 1979 komponiert und von ihm selbst 1993 für Violine und Klavier bearbeitet vor allem dadurch aus, dass er nur dezent in die traditionelle Struktur eingreift, was umso größeren Effekt hat: Dadurch entsteht ein subtiles Vexierspiel von Folklore, Komposition und Bearbeitung.
Tatsächlich bleibt der Tanzcharakter vollständig erhalten, rein theoretisch könnte sogar aufgrund der sehr regulären metrischen Struktur und der einfachen Melodie sowie einer viertaktigen Einleitung getanzt werden. Kurz gesagt, das Stück ist äußerst traditionell, womit nichts gegen seinen Wert gesagt sein soll, ganz im Gegenteil: Gerade unter der Tanzmusik moderner Komponisten existieren hinreißende Stücke man denke an den Walzer aus der Suite für Jazzorchester von Schostakowitsch. Wenn Schnittkes Polka auch nicht über den Hit-Charakter dieses Walzers verfügt, fällt sie dennoch in diese Tradition und ist gelungenste Art der Unterhaltung. Eine Mischung von Minimal- und Zigeunermusik.
Fürs Minimal sorgt die repetitive Einleitungsmotivik, ein synkopischer Groove, der zwischen Violine I und II aufgeteilt ist. Die erste, sehr einfache Melodie wird von der Bratsche eingeführt, während das Cello nach Art der Brillenbässe stilistisch korrekt begleitet. Für den Zigeunerschmelz sorgt die zweite Melodie mit einleitendem rallentando und Triller.
Die melodische Volkstümlichkeit bewegt sich hart an der Grenze zum Banalen. In der Banalität aber steckt zugleich der schräge Charme, der nur gelegentlich durch dissonanten Tonsatz entsteht, dafür häufiger durch klangliche Effekte wie das immer sparsam eingesetzte Spielen hinter dem Steg oder das Glissando. Letzteres gewinnt besondere Färbung durch eine klanglich hörbare Verstimmung des Cellos: Die C-Saite wird eine kleine Terz abwärts gestimmt, um die Melodie des A-Teils in a-Moll in besonders tiefer Lage begleiten zu können.
Obwohl das Stück kompositorisch einfach ist, birgt es dennoch spielerische Schwierigkeiten, die für ein Laienquartett eine echte Herausforderung wären; für ein professionelles Quartett hingegen ist es ein kostbares Kleinod. Die vorliegende Bearbeitung für Streichquartett stammt von Sergei Dreznin.
Steffen Schmidt