Mendelssohn Bartholdy, Felix
Konzert in e-Moll für Violine und Orchester op. 64, erste Fassung 1844
Partitur/Klavierauszug und Stimme
Diese Neuerscheinung ist überfällig. Allzu lange, bis Henle im vergangenen Jahr den Bann brach, haben wir auf eine Urtext-Ausgabe von Mendelssohns Prachtstück warten müssen. Spätestens seit damals wissen wir auch, dass dieses Violinkonzert in zwei Fassungen existiert, weil der Komponist nach dem Erstellen der autografen Partitur für Erstaufführung und Drucklegung noch einmal beträchtliche Änderungen am Solopart und an den Orchesterstimmen vornahm.
Die Differenzen und Varianten der Solostimme hat Igor Ozim in seinem Manuskript und Erstausgabe vergleichenden Kommentar seinerzeit im Anhang der Henle-Edition sehr sorgfältig aufgelistet und ist dabei auch der Frage nachgegangen, inwieweit die Änderungen kompositorischen Absichten Mendelssohns entspringen mögen oder eher spezifisch geigerisch-praktische Aspekte betreffen und dem Einfluss seines engen Freundes Ferdinand David, eines der führenden Violinvirtuosen seiner Zeit und Interpreten der Uraufführung, zu schulden sind. Beides hat bei der Revision sicher eine Rolle gespielt.
Interessant ist in diesem Zusammenhang das Bestreben des Komponisten, im ersten Satz einigen eher motorisch bzw. gestisch wirkenden Dreiklangspassagen der Erstfassung eine ausgeprägt motivisch-thematische Struktur zu geben (T. 429 ff. Erstfassung, T. 481 ff., T. 212 ff. usw.) sowie die meisterhafte Ausgestaltung der jetzt unvergleichlich dramatischen, espressiveren Kadenz. Die Geigenpassage am Ende des 2. Satzes mag ihm ein wenig glatt-banal erschienen sein und man nimmt staunend zur Kenntnis, um wie viel poetischer sie plötzlich klingt, da sie eben nicht bis zum Grundton, dem hohen C, sondern nur bis zum G geführt ist und von dort im Dreiklang zum C absteigt. Violinistische Gründe dürften die gelegentlichen Versetzungen des Geigenparts in andere Oktavlagen nach oben der größeren Brillanz und Strahlkraft, nach unten der leichteren Spielbarkeit halber sowie der Austausch einzelner Noten innerhalb schneller Passagen haben. Interessante Aspekte ergeben sich auch aus einem Vergleich der Artikulationsbezeichnungen, der, wie mir scheinen will, in Bezug auf Klarheit und Originalität nicht immer zugunsten der späteren Version ausfällt.
Die Manuskript-Urfassung war als Faksimile, herausgegeben von H. C. Robbins Landon, früher bereits greifbar. Jetzt legt Bärenreiter erstmals als Neudruck die Dirigierpartitur, den Klavierauszug mit Solostimme und das Orchestermaterial des kompletten Notentextes beider Versionen vor. Die Partitur bietet zusätzlich zu Text und Kritischem Kommentar noch eine die Entstehungsgeschichte des Werks hervorragend dokumentierende Einführung und den Faksimile-Abdruck einiger Manuskriptseiten der Urfassung, der von Mendelssohns Hand in eine Kopisten-Abschrift hinein notierten Endfassung der Kadenz zum ersten Satz, der ersten Seite der Violinstimme der Druck-Erstausgabe. Als Beigabe zum Klavierauszug gibt es jeweils eine uneditierte, ausschließlich den Notentext des Komponisten wiedergebende und eine von Martin Wulfhorst sehr professionell für den praktischen Spielgebrauch mit Fingersatz- und Strichvorschlägen versehene Violinstimme. Letztere sind bekanntlicherweise in hohem Maße eine Angelegenheit persönlichen Geschmacks. So entscheide jeder für sich, was ihr oder ihm mehr zusagt.
Dieser neue Bärenreiter bietet den Vorteil des kompletten Textes auch der Manuskriptfassung sowie der separaten, unbehandelten Extra-Violinstimme, Henle den Charme des günstigeren Preises. Mindestens eine von beiden Ausgaben gehört ins Notenregal jedes Geigers, am besten beide, und die Dirigierpartitur sollte nun wirklich in keiner Hochschulbibliothek, in keinem Notenarchiv unserer Orchester fehlen.
Herwig Zack