Hartmann, Tina
Goethes Musiktheater
Singspiele, Opern, Festspiele, "Faust"
Tina Hartmann liefert eine ihrer Intention nach genuin literaturwissenschaftliche Arbeit, die es dennoch freilich nicht vermeiden kann, auf das komparatistische Grenzgebiet zwischen Musik und Literatur einzugehen. Mit dem Ziel der Faust-Dichtung führt ihr Weg durch sämtliche musiktheatralische Erfahrungen Goethes hindurch. In Bezug auf das Musiktheater hebt Hartmann die Ergebnisse von Goethes Beschäftigung mit librettobezogener Dramaturgie, seine dichterische Verwendung von semantisch vordefinierten Weisen sowie das Diskursverfahren in und zwischen den Texten hervor.
Hartmanns Vorgehensweise ist dabei dem Dissertationscharakter verpflichtet: bester akademischer Stil und zahlreiche Zitate in der jeweiligen Originalsprache sowie für den Forscher unerlässliche Nachweise in den Fußnoten und ein erster knapp gehaltener Teil von 20 Seiten, der die Methodik der Arbeit erläutert. Die Autorin kommt in ihrer Untersuchung mit wenigen Textbeispielen und ohne Musikbeispiele aus, lockert aber die Lektüre durch die überwiegend schönen Beschreibungen und durch inhaltliche Wiedergaben auf.
Ausgangspunkt für die Untersuchung ist nach eigener Angabe die Wahrnehmung einer Affinität von größeren Passagen der Faust-Dichtung und Henry Purcells King Arthur sowie The Fairy Queen. Schade, dass Goethe Purcells Bearbeitung aller Wahrscheinlichkeit nach nicht gekannt hat. Bei der Darstellung von Goethes Auseinandersetzung mit librettistischen Mitteln und Verfahrensweisen gilt Hartmanns Augenmerk dem deutschen Singspiel in seiner norddeutschen und süddeutschen Form und dem Eingang der französischen Opéra comique auf die deutschen Opernbühnen. Die in gleichem Maß wichtige Verbreitung der italienischen Oper wird hingegen vorausgesetzt und nur in einem für die Gesamtlänge der Arbeit relativ knapp gehaltenen Exkurs abgehandelt (Die Genese der italienischen komischen Opernformen Intermezzo und opera buffa). Die entsprechenden Passagen über das entstehende deutsche Musiktheater heben sich deshalb auch qualitativ deutlich von denen über die italienische Oper und ihre musikdramatische Entwicklung ab.
Auf dem notwendigen Umweg über historische Voraussetzungen, Goethes frühe Singspiele, die erste Oper, die Opera buffa, die große Oper gelangt Hartmann in Kapitel XI zum Faust. Goethe so lautet Hartmanns These überträgt das Verfahren, das Sprechtheater mit sich selbst in intertextuellen Diskurs treten zu lassen und semantisch vordefinierte Weisen zu verwenden, aus der Oper in die Faust-Dichtung. Dass Goethe eine Erneuerung des Dramas aus dem Musiktheater anstrebte, geht nicht nur aus dem Briefwechsel mit Schiller hervor, sondern lässt sich für die Entstehung des Dramas bis auf den Textstatus der frühen Fassung zurückverfolgen (Urfaust), die bereits die meisten Gretchenlieder enthält. Dabei erscheint Faust I als die erste systematische Übersetzung musiktheatralischer Verfahrensweisen in ein Drama. Szene für Szene analysiert Hartmann bis ins Detail die dramatische Vorlage, äußert sich quellenkundig über Entstehungszeiten und -bedingungen und bietet eine grundsätzlich schöne Analyse der Verfahrensweisen der Oper als Folie des Schauspiels Faust.
Mit Seitenblicken auf Goethes Festspielkonzeption, Pandora und Des Epimenides Erwachen sowie Goethes letzte, Fragment gebliebene Opern (Der Löwenstuhl und Feraddedin und Kolaila) kommt Hartmann schließlich zur Funktion und Bedeutung des Musiktheaters in Faust II. Der Walpurgisnachtstraum bildet die Brücke zwischen Faust I und II hinsichtlich musikdramatischer Komplexe aus aneinander gereihten allegorischen Feldern, die dann Faust II seine spezifische Charakteristik verleihen. So verbindet Hartmann Goethes Vorliebe für überindividuelle mythische Stoffe und die daraus resultierende Tendenz zum Welttheater in der Oper mit der Konzeption und Ausführung von Faust II, wobei sie darin kein bewusstes Streben nach einer klaren Synthese zwischen Antike und Christentum erkennen kann.
Als besonders positive und leserfreundliche Eigenschaft sind aber das Verzeichnis von Goethes nachweislich bekannten Opern, ein Werkverzeichnis und ein Personen- und Werkregister zu nennen. Fazit: Eine wertvolle Arbeit und eine reiche Lektürequelle für Faust- und Goethe-Liebhaber mit weitem Horizont.
Cristina Ricca