Pierre Boulez
Dérive 2
pour 11 instruments, Studienpartitur
Die Symphonie in einem Satz: Jean Sibelius schlug diesen kompositorischen Weg mit seiner 7. Symphonie (in einem Satz) in C op. 105 ein (UA 1924, Stockholm); Bernd Alois Zimmermann stellte sich dreißig Jahre später mit der Symphonie in einem Satz (1951, rev. 1953) dieser Herausforderung. Pierre Boulez’ Dérive 2 für 11 Instrumente (1988-2006/09) ist ebenso durchgängig in einem Satz komponiert und vereint unterschiedlichste musikalische Charaktere. Mit einer Aufführungsdauer von rund 45 Minuten übertrifft dieses Werk die Spielzeit der Vorgängerkomposition Dérive 1 für sechs Instrumente (1984) beträchtlich. Die Uraufführung fand am 10. September 2002 in Luzern mit dem Ensemble Intercontemporain statt, die Leitung hatte der Komponist selbst.
Alle Instrumente (Englischhorn, Klarinette in A, Fagott, Horn in F, Marimbafon, Vibrafon, Harfe, Klavier, Violine, Viola, Violoncello) sind stark gefordert, es gibt kaum Phasen der Erholung. Die Partitur enthält keinerlei Hinweise zur Platzierung der Aufführenden, macht indes einen Vorschlag, der nicht bindend ist.
Auffällig sind die zahlreichen Takt- und Tempowechsel. Ein bestimmtes Tempo kann sich übergangsweise, auch plötzlich („Sub. Tempo…“) ändern. Es kann verbal umschrieben, auch sehr genau mit Metronomangaben (fest oder in einem Spielraum) – determiniert sein. Hinzu kommen Anweisungen wie „instable“ und sehr kurze Takteinschübe, die nurmehr Vorschlagsnoten, von mehreren Instrumenten gleichzeitig ausgeführt, enthalten.
Dadurch entwickelt sich der gesamte Klangkörper zu einer Art mobilen Plastik, die immer andere Formen annehmen kann. Phrasen und Zusammenhänge sind mehr oder weniger periodisch gegliedert, entziehen sich dabei einer sogleich durchschaubaren Regelmäßigkeit. Auch hier: Die Formung des Ganzen ist Ergebnis von kontinuierlichen Veränderungs- und Modulationsprozessen. Dérive: eine Art „Abgleiten“, „Abdriften“, eine „Verschiebung“. Partikel und fragmentarische Elementarteilchen verbinden sich zu einer bewegten Plastik, die durch Tempomodifikationen ihre Mobilität gewinnt und dabei immer andere Konturen annimmt.
Wie lässt sich diese Bewegtheit über so lange Zeit aufrechterhalten? Eine Erklärung ist womöglich in der „metrischen Modulation“ zu finden. Die Komposition ist nicht zufällig Elliott Carter (zum 80. Geburtstag) gewidmet, der Werke mit „tempo modulation“ (ein von ihm bevorzugter Terminus) schrieb, wobei die Komposition 8 Pieces for 4 timpani geradezu als Studie hierzu betrachtet werden kann. In Dérive 2 ermöglicht Tempo-Modulation die Verbindung heterogener Bewegungsverläufe. Ein besonderer Reiz hier: Angaben sind teils sehr präzise, teils betont ungenau (wie „céder“, etwas zögerlich). Die Modulation von einem Bewegungstyp in einen anderen sowie die Überlagerung unterschiedlicher divers proportionierter Bewegungstypen eint die heterogenen und vielschichtigen Prozesse in Boulez’ Kammermusikstück, das höchste Anforderungen an die Interpreten stellt.
Eva-Maria Houben


