Herbert Hellhund
Jazz
Harmonik, Melodik, Improvisation, Analyse
Der vorliegende Band – wenn auch nicht explizit als Lehrgang angelegt – eröffnet einen genauso anspruchsvollen wie anwendungsbezogenen Einstieg in das Analysieren von Jazz, hier insbesondere der Improvisation als seinem hervorragenden Praxismerkmal. Auf die Frage danach, wie die rasend schnelle Findung und bruchlose Umsetzung musikalischer Ideen in Improvisation überhaupt möglich sei und wodurch der Eindruck eines inneren Zusammenhangs bei fortwährend spontan generierten Ideen entstehen könne, weiß Herbert Hellhund in seiner Darstellung erhellende Antworten zu geben: Zum einen stellen die einführenden Kapitel in denkbar konzentriertem Duktus zusammen, was als Wissens-Fundamentum, als analytisches Rüstzeug in Sachen musikalische Parameter, Skalen, Akkorde und jazzharmonische Grundlagen (differenziert nach Jazzstilen) gelten kann. Zum anderen präsentiert das zentrale Kapitel „Strukturmittel der Improvisation: Konzepte und Materialien“ ein anregungsreiches Spektrum sehr konkreter Improvisationsstrategien.
Ausgehend von einer Begriffsdefinition – Improvisation als Rückgriff auf Inhalte des musikalisch-motorischen Gedächtnisses im Sinne neuro-muskulärer Reaktionsmuster – sowie einem (aus der Sprache abgeleiteten) dreidimensionalen Modell musikalischer Deklamation werden dort in systematischer Zusammenschau vielfältige Möglichkeiten und Verfahren für die Gestaltung von Improvisation vorgestellt: (in exemplarischer Auswahl) zunächst kreatives Arbeiten mit Skalen- und Akkordmaterial (beispielsweise „Skalen tarnen“ durch rhythmisch-intervallische Durchbrechung); sodann Prinzipien und Konzepte melodischer Entwicklung (z.B. Additions-/Substraktionsverfahren bzw. rhythmisch-metrische Überlagerung und Verschiebung); und schließlich Verkettung von Bausteinen sowie interne Logik in der Gestaltung von Jazz Lines (u.a. Akzentuierungsabstufungen, positive/negative Akzente, linear-schrittweise Verknüpfung).
Weil aber viele gute Details noch nicht das Gelingen des Ganzen garantieren, unterstreicht der Autor zusammenfassend den Stellenwert improvisations-dramaturgischer Planung für eine fesselnde Gesamtaussage: kontrastreiches, sinnstiftendes Wechselspiel der Ideen, Improvisieren als Geschichtenerzählen (gemäß dem berühmten Lester-Young-Credo: „Tell a Story!“). Vervollständigend macht eine ganze Reihe von Improvisationsanalysen aus dem Bereich des Modern Jazz dortige Mittel und Verfahren der melodischen Strukturierung (etwa Konzept der „formulaic improvisation“ in Soli Charlie Parkers) nachvollziehbar.
Fazit: Terminologische Klärung und Praxis-Anleitung, Vermittlung musiktheoretischer Grundlagen und hochkomplexe Analysen – höchst überzeugend das eine wie das andere. Und – ohne dass damit das Faszinosum entwertet, das Uneinholbare jeder gelingenden Improvisation eingeholt würde – es will dies alles verstanden sein als Voraussetzung für „wissendes“ Hören und „ganzheitliches“ Verstehen von Jazz respektive Gestalten eigener Improvisation. Uneingeschränkte Lektüre-Empfehlung also für Jazz-Hörende und Jazz-Praktizierende gleichermaßen.
Gunther Diehl