Leonard Bernstein
Wonderful Town
Danielle de Niese (Sopran), Alysha Umphress (Mezzosopran), David Butt Philip (Tenor), Nathan Gunn/ Duncan Rock (Bariton), Ashley Riches (Bassbariton), London Symphony Chorus, London Symphony Orchestra, Ltg. Simon Rattle
Wenn man die zum 100. Geburtstag von Leonard Bernstein gesendeten Fernseh-Porträts und -Dokumentationen gesehen hat, wird klar, warum der Musiker vor allem als Dirigent in Erinnerung bleibt. Bei seiner Arbeit mit Orchestern faszinierte er wie kein anderer: Es ist unvergleichlich, wie er etwa die Wiener Philharmoniker im Finale von Haydns Sinfonie Nr. 88 schmunzelnd nur mit den Augen „dirigiert“ oder wie er gegebenenfalls auf dem Dirigentenpodium – oft bis zum Grenzwertigen – tanzt und gestikuliert. Doch Bernstein hat gelitten unter der mangelnden Anerkennung seiner Kompositionen, nicht nur bei den Hörern, sondern auch in punkto Präsenz in Konzertprogrammen. Eigentlich seien all seine Werke in gewisser Weise Theatermusik, hat er gesagt, vielleicht stolz mit Blick auf den Welterfolg West Side Story.
Mit dem Musical Wonderful Town, als „musikalische Komödie“ bezeichnet, setzte er die Reihe seiner 1944 mit On the Town begonnenen Bühnenstücke fort. Wonderful Town ist mit fünf Tony Awards ausgezeichnet worden und war ein internationaler Erfolg. Zum Auftakt des Bernstein-Jubiläums 2018 setzte die Staatsoperette Dresden das Stück auf den Spielplan, und Simon Rattle, der das Musical 1999 im Studio und 2002 live in Berlin bei einem Silvesterkonzert aufgenommen hatte, legt jetzt den hier besprochenen Mitschnitt von 2017 mit dem London Symphony Orchestra aus dem Barbican Centre in London vor.
Am Beginn der CD könnte man meinen, man hätte versehentlich die Aufnahme mit einer Swing-Bigband aufgelegt. Und tatsächlich kommt zum großen klassischen Orchester das ganze Instrumentarium einer Jazzformation hinzu mit einem fünfköpfigen Saxofonsatz. Noch stärker besetzt ist der Chor mit mehr als 120 Stimmen neben 13 Solisten.
Die Ouvertüre zeigt sich als kontrastreicher Vorgriff auf die Erlebnisse von Eileen (Danielle de Niese) und Ruth (Alysha Umphress), also der beiden frisch in New York City angekommenen Schwestern aus der Provinz. Die hübsche Eileen, die Schauspielerin werden möchte, und die intellektuelle Ruth, die eine Karriere als Autorin anstrebt, verlieben sich beide in den Redakteur Bob Baker (Nathan Gunn). Auch dies wird angedeutet mit lyrisch-romantischen Untertönen. Schließlich: Nach Problemen von Ruth als unbeholfene Reporterin und Eileen im Konflikt mit der Polizei wegen Ruhestörung gibt es ein Happy End: Letztere wird entdeckt, Erstere und Mr. Baker werden ein Paar.
Bernstein der Theatermusiker, der Melodiker, der Songkomponist begeistert uns beim kammermusikalisch begleiteten „Ohio“ mit den Kindheitserinnerungen der Schwestern, beim operettenhaft kecken „A Little Bit in Love“, beim fetzigen „Conga!“ des von Simon Halsey geleiteten vitalen Chors. Das Gesamtorchester hat im „Entr’acte“ noch einmal unsere ganze Aufmerksamkeit. Da es bereits eine DVD von Rattle gibt neben verschiedenen CDs, ist diese neue CD allerdings keine echte Bereicherung.
Günter Buhles