Udo Bermbach
Richard Wagners Weg zur Lebensreform
Wagner in der Diskussion, Bd. 17
In der 1893 in der Nähe von Berlin gegründeten Obstbaukolonie Eden, der ersten deutschen Landkommune, lebten national und völkisch gesinnte Menschen. Unter ihnen befanden sich auch der leidenschaftliche Bayreuthianer, Pianist und Wagner-Freund Karl Klindworth und seine Frau Henrietta Karop Klindworth, deren Adoptivkind Winifred Williams später durch die Heirat mit Wagner-Sohn Siegfried zur Festspielleiterin und „Herrin des Hügels“ nach Siegfrieds Tod wurde.
Der familiäre Zusammenhang zwischen dem Haus Wagner und der sogenannten Lebensreformbewegung, die nicht nur, aber auch von Eden ausging und als Gegenbewegung zur modernen Industrialisierung eine gesellschaftliche wie moralische Regeneration der Menschheit und ihrer Lebensweise anstrebte, kommt nicht von ungefähr.
Udo Bermbach belegt in seiner brillianten Studie durch den Vergleich von Wagners Spätschriften, den sogenannten Regenerationsschriften, mit dem Gedankengut der Propheten der Lebensreformbewegung, Karl Wilhelm Diefenbach, Hugo Höppner alias Fidus und Gusto Gräser, dass dieser Zusammenhang kein Zufall ist. Es gibt durchaus einen gedanklichen Zusammenhang zwischen Wagner, Bayreuth und der Lebensreformbewegung, deren Ziele sich weitgehend mit Wagners Regenerationsideen decken: Einspruch gegen Vivisektion, Plädoyer für Vegetarismus und Antialkoholismus, Reflexion über Klima und die schädlichen Folgen der modernen Industrialisierung auf die menschliche Natur, Kultur und moderne Lebensformen.
Die Bewegung, die sich auf Rousseaus Motto „Zurück zur Natur“ berief, hatte nicht nur in Eden, sondern auch, wie Bermbach darstellt, an Orten wie der Mathildenhöhe Darmstadt, der Dresdner Künstlerkolonie Hellerau, dem Monte Verità am Lago Maggiore und der Kunststätte Bossard südlich von Hamburg ihre geistigen Zentren und architektonischen Symbole geschaffen, durchaus mit Wagner-Bezug.
Wagners Beiträge zur gesellschaftlich-politischen Debatte seiner Zeit (seine politischen, moralischen und lebenspraktischen Überzeugungen unterlagen allerdings beträchtlichen Schwankungen und waren für ihn keineswegs unumstößlich), in der er Fehlentwicklungen des modernen Lebens konstatierte, die korrigiert werden müssten, mündeten ein in den breiten Strom der Lebensreformbewegung. Nach Wagners Tod wurden sie gefördert von den Bayreuthern, vor allem von dem fanatischen britischen Wagnerianer Houston Stewart Chamberlain, der 1908 Wagners Tochter Eva heiratete und damit Zugang zum innersten Bayreuther Zirkel hatte, aber auch von Hans von Wolzogen, der sechzig Jahre lang (1878-1938) Redakteur der Bayreuther Blätter war und einer der engsten Vertrauten Cosima Wagners. Sie alle standen der Lebensreformbewegung nahe, wie Bermbach dokumentiert. Seine profunde Arbeit belegt „ein typisches Muster des Einflusses und der Empathie der Reformer zu Wagner, seinem Werk und Denken“. Die Publikation schließt eine Lücke der Wagner-Forschung, die diesen Zusammenhang bisher nicht thematisierte.
Dieter David Scholz


