Spaltenstein, Laure
Berlin 1830, Wien 1870, München 1910
Eine Begriffsgeschichte musikalischer Aufführung im 19. Jahrhundert
Will man kulturgeschichtliche Zusammenhänge richtig verstehen, ist ein genaues Verständnis der zu bestimmten Zeiten und Orten verwendeten Terminologie unabdingbar. Deshalb gehören Untersuchungen wie die vorliegende zur wertvollen Grundlagenforschung, auf der aussagekräftige Erkenntnisse überhaupt erst möglich werden, auch wenn sie per se noch keine musikwissenschaftlich relevanten Tatsachen liefern. Dies wird hier auch gar nicht angestrebt; gleichwohl ergibt sich aus dieser aus historischer Kenntnis heraus sehr geschickt angelegten Gegenüberstellung dreier Fallstudien, wie sie die Autorin nennt, ein musiksoziologisch überaus aufschlussreicher Blick auf diesen Zeitraum, in dem sich die Musik und ihre Aufführungspraxis parallel zur zunehmenden Industrialisierung der Gesellschaft intensiv und schneller entwickelte als je zuvor.
Da darf es nicht wundern, wenn sich auch die Terminologie neue Wege suchte und fand, wie hier anhand von Vergleichen zwischen Zeitungsberichten über Konzerte zu den benannten Zeiten und Orten exemplifiziert wird. So beinhaltet der Begriff Vortrag in Berlin um 1830 nicht nur die reine Darbietung von Musik, sondern auch deren Machart bzw. Qualität. Nur so ist mithin eine Aussage wie viel Vortrag zu verstehen, den ein Rezensent einem Künstler damals bescheinigte. Interessant ist daneben zu verfolgen, wie sich im Laufe der betrachteten Zeitspanne das begriffliche Arsenal erweiterte, mit dem die Rezensenten operieren konnten, wobei immer mehr zwischen den rein faktisch beschreibenden und den qualitativ wertenden Termini unterschieden wurde.
Auffallend und für manchen Leser wohl überraschend mag die Tatsache erscheinen, dass der heute so zentrale Begriff der Interpretation erst sehr spät in deutsche Feuilletons Eingang fand. Die Autorin vermutet (wahrscheinlich zu Recht), dass dieser sich vom französischen interpréter herleitete, was primär mit übersetzen oder dolmetschen zu übertragen ist. Tatsächlich findet sich in etlichen Kritiken seinerzeit denn auch dieser deutsche Terminus, wohingegen in Frankreich schon weit früher vom interprète die Rede war, wohl auch deswegen, weil es dort kein Synonym für das deutsche Wort Vortrag gibt.
Solche und manch andere durchaus aufschlussreiche Sachverhalte finden sich in der vorliegenden Arbeit, in der sich die Autorin über eine wissenschaftlich korrekte Darstellung hinaus mit Erfolg auch stets um einen gut lesbaren Text bemüht, in dem sich zudem kaum Fehler finden, zu denen etwa die Zweite Jahrhundertmitte zählt oder die Schalplatte (sic!); sachlich falsch ist auch, wenn der Trauermarsch aus Beethovens Eroica in Zusammenhang mit der gefährlichen Hörner-Klippe des Trio gebracht wird: Hier handelt es sich natürlich um das Scherzo der Sinfonie. Ansonsten darf man diese Arbeit als sehr gelungen und verdienstvoll begrüßen.
Gunter Duvenbeck