Lutoslawski, Witold

Concerto for Orchestra / Little Suite / Symphony No. 4

NDR Sinfonieorchester, Ltg. Krzysztof Urbanski

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Alpha Classics ALPHA 232
erschienen in: das Orchester 09/2016 , Seite 71

Seit Beginn der Saison 2015/16 ist der international gefragte und gefeierte Pole Krzysztof Urbanski Erster Gastdirigent des NDR Sinfonieorchesters Hamburg, mit dem er die Einweihung der Elbphilharmonie im Januar 2017 anpeilt und sein Plattendebüt beim Label Alpha gestartet hat. Spätestens nach einem Blick ins Booklet und auf den Text, den der Shootingstar seiner fulminanten Einspielung mit auf den Weg gibt, hat man es schwarz auf weiß, weshalb die Interpreten alle Erwartungen übertreffen und alles anders zu klingen scheint als üblich: frisch, energiegeladen und ungestüm, mit immenser Eindringlichkeit und Strahlkraft. Und man begreift, warum die Aufführungsdauer der 4. Sinfonie so ungewöhnlich kurz ist.
Die suggestive Klangwelt des Konzerts für Orchester wurde für Urbanski im Alter von 16 Jahren zu einem Schlüsselerlebnis: „Ich werde mein ganzes Leben lang von der Schönheit dieses Stückes und der Musik Lutoslawskis fasziniert sein. Ich bin glücklich, dass meine erste Aufnahme mit dem NDR Sinfonieorchester der Musik eines der größten Komponisten Polens gilt.“ Und so stellt er das imposante, 1954 uraufgeführte Werk folgerichtig an den Beginn seiner außergewöhnlichen Porträt-CD, die vielfältige Verwandtschaften, Entwicklungen und manche Entdeckung offenbart. Was den Festklängen der „Intrada“, den Schattenspielen in „Capriccio notturno ed arioso“ und dem Kuppelbau von „Passacaglia, Toccata e Corale“, der orchestralen Virtuosität, dem Rückgriff auf barocke Formen und den weiträumigen Verläufen als Material und Klangelement dient, das ist die polnische Folklore.
Doch während die vier Sätze der kecken Kleinen Suite (1951) – „Fujarka“, „Hurra-Polka“, „Lied“ und „Tanz“ – die Volksmusik noch ganz direkt übernehmen, um sie harmonisch, rhythmisch und instrumental zu „würzen“, durchdringt sie sublimiert die gesamte Struktur des Orchesterkonzerts als „Nachhall“ und nationale Intonation. Um­so mehr leistet sich der Schlusssatz einen Vorgriff auf Lutoslawskis sinfonische Konzeption, der er später fast drei Jahrzehnte hindurch, fernab einer klassischen Dramaturgie, folgen wird: die zweiteilige Gliederung in einen vorbereitenden und einen Hauptsatz (Zögernd – Direkt) und deren spannungsreiches Kontinuum.
In diesem Sinn erscheint die 4. Sinfonie, deren Uraufführung der Komponist 1993 in Los Angeles dirigiert hat, nicht als ein nahezu verklärtes, sondern auch als ein resümierendes Alterswerk voller raffinierter Farbimpressionen und lyrischer Kantilenen, idyllischer Momente und zügiger Steigerungen, verschwimmender Formen und dem stürmischen Wechselspiel notierter und aleatorischer Passagen. Und der Gipfel vor der Coda mutet an, als kehre der Choral aus dem Orchesterkonzert wieder.
Witold Lutoslawskis beeindruckende Synthese zweier Entwicklungslinien des 20. Jahrhunderts, Debussy und Schönberg, wird in dieser ebenso atmosphärischen wie furiosen Aufnahme und dem brillanten Klangbild zu einem Ereignis der Extraklasse. Urbanski und das Orchester haben keinen Wunsch offen gelassen.
Eberhard Kneipel

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