Unseld, Melanie
Biographie und Musikgeschichte
Wandlungen biographischer Konzepte in Musikkultur und Musikhistoriographie
Wie viel Zeit wird man wohl investieren müssen, um den Dickleiber mit seinen über 500 Seiten zu konsumieren? Dies ist die erste Frage, die den Musikfreund bewegt, bevor er sich diese Neuerscheinung vornimmt, von der er sich neue Erkenntnisse erhofft. Das Thema Biographie und Musikgeschichte klingt einfach und lässt dabei doch die Eröffnung weiter Horizonte erwarten. Der Untertitel Wandlungen biographischer Konzepte in Musikkultur und Musikhistoriographie signalisiert indes, dass sich die Lektüre wohl kaum ohne größere Anstrengungen bewerkstelligen lässt. Eine den gewaltigen Stoff strukturierende Gliederung war da unverzichtbar.
Die Musikwissenschaftlerin Melanie Unseld, die ihre Dissertation über Tod und Weiblichkeit in der Musik der Jahrhundertwende geschrieben hat und seit 2008 an der Carl von Ossietzky Universität in Oldenburg als Professorin für Kulturgeschichte der Musik und Gender wirkt, unterteilte ihre musikhistorischen Erkundungen denn auch in drei Sektionen: (Musiker-) Biographie als Erinnerungskultur, Biographische Konzepte in Musik und Musikgeschichtsschreibung und deutschsprachige Musikwissenschaft und Biographie.
Ihr gedanklicher Ausgangspunkt ist die heikle und daher nicht ganz zu Unrecht umstrittene Musikerbiografik, vielleicht als Donnerblitzbub-Syndrom zu umschreiben, die im 18. Jahrhundert aufzublühen begann, im 19. ihren Höhepunkt erlebte und im 20. Jahrhundert an Ansehen deutlich verlor. Der im Laufe der Zeiten gepflegten Heroisierung der Musiker und ihrer Einvernahme für bestimmte historische, politische oder sonstige Zwecke will die Autorin mit ihrer differenziert-kenntnisreichen Studie entgegenwirken. Sie untersucht Ursachen und Zusammenhänge, die für Idealisierungen ausschlaggebend waren, und macht damit auch die Gründe plausibel, die zum Ausschluss der Biografik aus der Musikwissenschaft führten.
Ihre Hauptthemen sind jene sich stetig verändernden Darstellungsstrategien, die für Musikerbiografien zwischen dem 18. und 21. Jahrhundert angewandt wurden, sowie das Wechselverhältnis von Musikerbiografien und Musikgeschichtsschreibung. Diese eng miteinander verzahnten Sujets berühren mit ihrem interdisziplinären Ansatz zahlreiche historisch oder auch sozial konnotierte Themenfelder, die von der Autorin mit bemerkenswerter Akribie und spürbarer Empathie ausgelotet werden. Dabei spielen Biografieforschung und Genderstudien, Kulturwissenschaften und Erinnerungsforschung gleichermaßen mit hinein. Interessant ist zum Beispiel Unselds Hinweis auf das enge Verhältnis von Selbst- und Fremdinszenierung im Musikschrifttum, weil dessen Grenzen durch die Zusammenarbeit zwischen Musiker und Biograf oft verwischt wurden.
Stellt der erste Teil ihrer Studie die Frage, wann Musiker erinnerungs- und biografiewürdig wurden, und widmen sich Teil zwei und drei detailreich den Grundthemen, so formuliert die Autorin anstelle eines abschließenden Fazits ihre Anforderungen an eine gegenwärtige musikwissenschaftliche Biografik, wobei sie konzidiert, dass Biografiewürdigkeit nicht absolut ist, sondern vielmehr einem Wandel unterliegt, der Rückschlüsse auch auf das jeweilige Musikverständnis zulässt.
Heide Seele


