Bizet, Georges

Carmen

Opéra en 4 actes, hg. von Richard Langham Smith, Gesangspartitur/Klavierauszug

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Peters, Leipzig 2014
erschienen in: das Orchester 11/2014 , Seite 64

Urtext – die Aura des Authentischen, Guten und Wahren umweht dieses Zauberwort. In den vergangenen Jahrzehnten wurde es zur Richtschnur zahlreicher Musikverlage und ihrer Programme. Doch wie gelangen wir zu einem Urtext? Der klassische Weg – wir befreien das Original des Verfassers von willkürlichen Zutaten späterer Zeit – ist zumeist der richtige. Was aber, wenn das Original nicht mehr existiert oder bereits in seiner Entstehungsphase zu einer Art Arbeitsgrundlage umfunktioniert wurde? In beiden Fällen muss auf Sekundärmaterial zurückgegriffen werden, was die Authentizität des Unternehmens keineswegs per se in Frage stellt. Autorenhandschriften sind keine „heiligen Kühe“, Partituren fungierten immer auch als Arbeitspapiere oder Aufführungsprotokolle.
Am 3. März 1875 wurde in der Pariser Opéra-Comique Georges Bizets Carmen uraufgeführt. Drei Monate später starb der Komponist. Bereits zu dieser Zeit bestand eine diffuse Quellenlage: Bizets eigenhändige Partitur, in die von fremder Hand während der Produktionsphase Änderungen eingetragen worden waren; eine (nicht vom Komponisten!) handgeschriebene Dirigierpartitur und die daraus abgeleiteten Orchesterstimmen; und ein Ur-Klavierauszug, in dem Bizet zahlreiche Korrekturen vorgenommen hat. Darüber hinaus existieren Inszenierungsbücher, in denen sich viele Anmerkungen zur Bühnenproduktion und entsprechend zu Änderungen (Kürzungen, Umstellungen) in der Musik selbst finden.
Richard Langham Smith, englischer Musikologe und Professor am Royal College of Music, strebt in seiner maßstabsetzenden editorischen Arbeit zum Thema Carmen danach, einen „Performance Urtext“ zu er-
stellen. Er integriert alle genannten Quellen, außerdem den revidierten Klavierauszug und die erste gedruckte Partitur (diese Quellen enthalten auch die nachträglich komponierten Rezitative, mit deren Hilfe die Opéra-Comique zur Grand Opéra mutieren sollte) und gelangt zu einem Ergebnis, das Carmen als musikalischen Text und zugleich als inszeniertes Musiktheater präsentiert. Musikwissenschaftliche Akribie und profundes Wissen zum Thema Musiktheater fügen sich zusammen zu einem neuen Blick auf ein scheinbar bekanntes Werk. Zugleich erfährt der Begriff Urtext eine Auffrischung, die freilich auch dem Umstand eines „fließenden“ Genres Rechnung trägt: Die Pariser Opéra-Comique war kein Musentempel, sondern ein lebendiges, improvisationsfreudiges Theater.
Dem vorliegenden Klavierauszug ging die Publikation der Partitur und des Orchestermaterials voraus. Dirigenten wie John Eliot Gardiner und Marc Minkowski griffen für ihre Produktionen darauf zurück, zumal hier die Partien der Cornets à Piston und Hörner in ihren Originalgestalten wiedergegeben sind. Apropos: Kleinere Übersetzungsfehler in der deutschen Version des Vorworts verdrießen leicht. Im Zusammenhang mit Hornpartien bedeutet „Key“ nicht Tonart, sondern Transposition.
Irreführend auch die Formulierung „erste Spielzeit“: „First run“ bedeutet schlicht „erste Vorstellung“. Gerhard Anders

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