Beethoven, Ludwig van
Departure – Utopia Symphonies Nos. 1 & 7
 	Das Motto für beide Symphonien, die unterschiedlicher nicht sein könnten, wählte Kent Nagano mit gutem Recht: Aufbruch und Utopie kennzeichnen das Werk wie das persönliche Empfinden eines hochinnovativen Spätzünders in der Geschichte der Symphonien-Komposition.
 	Der Chefdirigent des Orchestre Symphonique de Montréal differenziert in der 1. Symphonie C-Dur (1799/1800) beinahe von Takt zu Takt in Tempo wie Dynamik. Damit erkennt er die Übernahme früherer Entwürfe aus der Jugendzeit in dieses Werk an, das sich damit per se aus inhomogenen Elementen konstitutiert: Behutsames analytisches Herangehen wechselt mit forschem Aufbrausen und energischem Vorwärtstreiben, innerhalb der einzelnen Satzteile herrschen polarisierende dynamische Unterschiede. Ein solches Verständnis kommt der Logik des Allegro con brio entgegen, denn Stauung und Fluss charakterisieren den ersten Satz. Die beabsichtigte Zuspitzung auf das c im Adagio molto der langsamen Einleitung wirkt dabei allerdings weniger deutlich. Manches Accelerando erscheint ein wenig überakzentuiert ebenso wie die dichte Komprimierung der lauten akkordischen Orchesterpassagen. Doch entspricht Nagano damit dem für sämtliche Symphonien des Komponisten zeituntypischen schnellen Metrum und ebenso dem Umstand, dass Beethoven ja der erste war, der Metronomangaben streng vorschrieb.
 	In der 7. Symphonie A-Dur (1811/12) werden hinsichtlich Dynamik und Tempo die Sätze in größeren Bögen durchdirigiert, die übergeordneten Zusammenhänge auf luzide Weise deutlich. Dabei wird nur der Tatsache weniger Rechnung getragen, dass sich die Teile des Satzes erst allmählich zu einer Gestalt fügen. In allen Teilen der Symphonie ist die Agogik genau beachtet, nichts wird forciert, was gerade zu einem mitreißenden rhythmischen Schwingen führt, das die bärbeißig-martialische Seite des Komponisten fast vergessen lässt. Dies ist in den meisten anderen Aufnahmen keineswegs der Fall! Simon Rattle etwa lässt die trotzige, napoleonische Gebärde Beethovens noch stärker hervortreten und betont die Stellen, in denen Beethoven von der klassischen Form abweicht, weniger differenziert. Die Crescendo-Steigerung über zwanzig Takte, die in dieser Werkperiode häufiger auszumachen ist, erfolgt nicht allmählich, sondern wird eher rasch absolviert.
 	Nagano weiß, dass auf dem derzeit hohen digitalen Wiedergabeniveau jeder Ton wahrgenommen werden kann, und bewegt sich bei seiner Interpretation der 1. Symphonie nahe am Rande einer  dekonstruktivistischen Auffassung. Jede Stimme hat Gewicht, jede noch so kleine Angabe hinsichtlich der Aufführungsparameter wird (noten)buchstäblich genommen. Dies erinnert an eine Praxis in der Interpretation Alter Musik, und manche Passage erinnert auch mehr an Gardiners Linie. Davon unterscheidet die hier vorliegende Aufnahme allerdings der schnell vorwärtstreibende, beinahe hastende Gestus, der wiederum mit der Ortlosigkeit des Komponisten in diesen Jahren zu tun hat. Am Finale der 7. Symphonie lässt sich freilich die Empörung des Publikums während der Uraufführung kaum mehr nachvollziehen.
 	Hanns-Peter Mederer


            
            
            