Milhaud, Darius / Domenico Scarlatti/ Vincenzo Tommasini / Henri Sauguet

Les Ballets Russes Vol. 9

Le train bleu / Les femmes de bonne humeur / La chatte

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Hänssler Classic CD 93.296
erschienen in: das Orchester 07-08/2013 , Seite 75

Der Auftritt der Ballets Russes in Paris zu Beginn des 20. Jahrhunderts gehört zu den wichtigsten tanz-, musik- und auch kunstgeschichtlichen Ereignissen der Moderne. Aufgrund der Vielzahl relevanter Ebenen ist es eine historisch wichtige und daher ehrenwerte Aufgabe, wenn sich Orchester der Einspielung unbekannter Werke aus diesem Kontext widmen. Von Hänssler Classic wurde nun glücklicherweise eine ganze Reihe ins Leben gerufen, in der diese Werke eingespielt werden.
Nun erschien die schon neunte CD mit Werken, die vor allem auch für die Theatergeschichte sehr bedeutsam sind und zugleich die kompositorischen Entwicklungen Frankreichs dieser Zeit spiegeln. Den Beginn macht Milhauds Le train bleu, eine für ihn typische, wenngleich eher harmlose Komposition zwischen neobarocken Tönen und damaliger Unterhaltungsmusik, die gleichermaßen das Lebensgefühl der mondänen Welt zwischen Leichtigkeit und luxuriöser Langeweile spiegelt. Gerade hier zeigt sich auch die Dimension des Gesamtkunstwerks mit der ursprünglichen Choreografie von Bronislawa Nijinska und Kostümentwürfen Coco Chanels.
Nicht minder allerdings zeigen sich Aspekte des modernen Gesamtkunstwerks auch in der vielleicht wichtigsten Einspielung der CD, Henri Sauguets La Chatte, das 1927 mit einem konstruktivistischen Bühnenbild des damals sehr prominenten Naum Gabo und in einer Choreografie des jungen Balanchine aufgeführt wurde. Die neun Stücke entsprechen ganz der Ästhetik der Groupe de Six, als dessen „siebtes Mitglied“ Sauguet gelegentlich bezeichnet wurde. Anders aber als Milhaud finden sich hier kaum Anklänge des Jazz, der Ton ist insgesamt romantischer, wenngleich in der Diktion von dem damals herrschenden Klangbild des Neoklassizismus bestimmt. Das ist auch die Stärke Sauguets, eine ausgesprochen feingliedrige Instrumentation, die seine Themen im Schein des Bekannten in ein fremdes Licht tauchen. Ein fahler Holzbläserklang eröffnet sehr zurückhaltend das Ballett, ein Vorhang vor dem Vorhang, der sich formal mit dem weiteren Geschehen geschickt verwebt, um sich in einem sprühenden Tanz des nächsten Satzes zu entladen. Da klingt im dritten Satz von fern eine gestopfte Trompete gefährlich in den sonst idyllischen Satz hinein. Dirigent und Orchester entfalten darin ein kongeniales Gespür, ohne Pathos die Klangfarben sprechen und damit expressiv werden zu lassen.
Als dritte Komposition eröffnet die CD ein bei den Ballets Russes oftmals betriebenes Phänomen der Bearbeitung. Neben Originalkompositionen wurde vielfach Musik vergangener Zeitalter instrumentiert; bei Tommasinis Inst­rumentierung von 1917 handelt es sich um eine notengetreue Umsetzung, die ebenso schlüssig wie unterhaltsam ist und mit dem nötigen Esprit in Klang gesetzt wird.
Die CD versammelt nicht nur eine Anzahl musikalisch reizvoller, historisch wichtiger Kompositionen, sondern vereinigt sie in der vorgeschlagenen Reihenfolge zu einem geschmackvollen Konzert. Mit dem ausführlichen Begleittext des Booklets und einem Grußwort John Neumeiers ist sie ein verdienstvoller Glücksfall, der auf Weiteres hoffen lässt.
Steffen A. Schmidt

Page Reader Press Enter to Read Page Content Out Loud Press Enter to Pause or Restart Reading Page Content Out Loud Press Enter to Stop Reading Page Content Out Loud Screen Reader Support