Raff, Joachim
Symphony No. 2/Four Shakespeare Preludes
Eine Cavatina blieb lange Zeit das einzige Lebenszeichen. Doch seit etwa drei Jahrzehnten erlangt Joachim Raff 1822 in Lachen bei Zürich geboren und 1882 in Frankfurt am Main verstorben vor allem dank vieler CD-Aufnahmen wieder Aufmerksamkeit; ein Platzhirsch im Repertoire wurde er freilich nicht. Dabei war er in den 1870er Jahren einer der meistaufgeführten Komponisten Deutschlands mit einem umfangreichen, vielfältigen uvre, in dem die Masse des Geschaffenen das Originäre und Lebendige seiner Musik oft überdeckte. Aber nicht aus Übermut oder purer Leidenschaft komponierte Raff en gros, sondern notgedrungen im wahrsten Sinne des Wortes. Denn erst als er 1856 nach Wiesbaden geht und 1877 die Direktion des Frankfurter Konservatoriums übernimmt und diesem Institut höchstes Ansehen verschafft, gelangt sein armseliges, unstetes Leben in sichere Bahnen. Zuvor hatte schon die schicksalhafte Begegnung mit Franz Liszt, 1845 in Basel, große Hoffnungen geweckt, mehr noch ihre Zusammenarbeit von 1850 bis 1856 in Weimar, die Raff als Enthusiast begann und als Dissident abbrach und von den Neudeutschen zu Mendelssohn und Schumann zurückging.
Aus dieser Polarisierung, auch aus den künstlerischen Imaginationen und den brillanten Instrumentationsideen Raffs zieht die Neueinspielung des Labels Chandos überwältigend Gewinn. Nach den Gesamtaufnahmen von Marco Polo (1993) und Tudor (2003) spielt es mit dem exzellenten Orchestre de la Suisse Romande unter Neeme Järvi und der klangprächtigen Präsentation im SACD-Format fulminant alle Trümpfe aus. Unter den elf Sinfonien Raffs ist die zweite in c-Moll eine der wenigen ohne Programm-Titel. Sie entstand 1866 in Wiesbaden, wurde ein Jahr später durch die Königliche Hofkapelle uraufgeführt und 1869 vom Verlag Schott (Mainz) gedruckt. Ihre vier Sätze bezeugen, wie inspiriert Raff mit der Gattungstradition umgeht: Der vermeintlich akademische Anstrich wird durch unerwartete strukturelle, harmonische und farbliche Finessen aufgefrischt; Genre-Elemente werden gekreuzt, Rhythmen und Metren kontrastvoll überlagert und Sommernachtsspuk durch fein instrumentierten Holzbläserklang aufgehellt.
Raffs vier Shakespeare-Vorspiele Sturm, Macbeth, Romeo und Julia und Othello wurden 1879 in Frankfurt komponiert und drei von ihnen in Wiesbaden uraufgeführt; ein Verlag fand sich trotz intensiver Bemühungen des Freundes Hans von Bülow nicht. In seinen ausdrucksstarken Charakterstücken zeigt sich Raff als erfindungsreicher Tonpoet und glänzender Tonmaler von Lisztscher Herkunft und Berliozscher Couleur. Die Musik spürt, frei geformt, den Handlungslinien nach und entwirft zarte Naturbilder, vielschichtige Seelengemälde und brodelnde Dramenszenen.
Auch diese Werke gerieten in Vergessenheit. Vielleicht aber blieb Raff nicht nur durch die Cavatina lebendig: Alexander Ritter, der Lehrer von Richard Strauss, war Schüler Raffs und hat gewiss einiges von dessen Kunst der tondichtenden und klangzaubernden Nachwelt übermitteln können.
Eberhard Kneipel


