Müller, Sven Oliver

Richard Wagner und die Deutschen

Eine Geschichte von Hass und Hingabe

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: C.H. Beck, München 2013
erschienen in: das Orchester 07-08/2013 , Seite 66

Wagner und kein Ende! Nicht allein Egon Voss’ Wagner-Buch aus dem Jahr 1996, auch eines der einleitenden Kapitel der vorliegenden Neuerscheinung trägt diese programmatische Überschrift. Und das zu Recht, denn zur Ruhe gekommen ist die Nachwelt über Richard Wagner bis heute, da sich sein Geburtstag zum 200. Mal jährt, durchaus nicht.
Gleichwohl kommt der Untertitel des Buches ein wenig zu reißerisch daher: Außer Hass und Hingabe sind durchaus reflektiertere Zwischentöne zu vernehmen, die seit Wagners Tod im Jahr 1883 durch das Werk des genialen Egomanen hervorgerufen wurden. Eine detaillierte Darstellung dieser Wirkungen in der deutschen Gesellschaft – sollte man sagen: in den deutschen Gesellschaften? – ist Gegenstand der vorliegenden Untersuchung. Ihr Autor, der Historiker Sven Oliver Müller, arbeitet derzeit am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung an einer Untersuchung zum Thema Musik und Emotionen. Mit Publikationen über das deutsche Kaiserreich und über die Thematik des Nationalismus hat er sich einen Namen gemacht.
Der Aufgabe, den komplexen Gegenstand der Wagner-Rezeption in ein gut lesbares und zugleich wissenschaftlichen Ansprüchen entsprechendes Buch zu verwandeln, ist Müller glänzend gerecht geworden. Ohne das Ende des Jahres 2013 bereits erreicht zu haben, wagen wir hier und jetzt die Prognose, dass diese Untersuchung als vielleicht produktivste Auseinandersetzung mit dem Phänomen Wagner aus dem Jubeljahr hervorgehen wird. In fünf chronologisch geordneten Kapiteln – Kaiserreich, Weimarer Republik, Nationalsozialismus, BRD und DDR, Deutschland nach der Wiedervereinigung – spürt der Autor der Wirkungsgeschichte nach. Wir erfahren Aufschlussreiches etwa über zwei „ungleiche Bewunderer“
– König Ludwig II. von Bayern und Kaiser Wilhelm II. –, über latente Diktaturverherrlichung in Fritz Langs Nibelungen-Film von 1924 (und Siegfried Kracauers Kritik hieran), über die Rolle Wagner’scher Musik im besetzten Frankreich nach 1940, über Neu-Bayreuth als kulturelle Kompensationsstätte für die Schmach des verlorenen Krieges, über die Installierung der Dessauer Wagner-Festwochen als veritabler Konkurrenzveranstaltung in der DDR, schließlich über Wagner in Zeiten der Postmoderne.
Doch selbst diese Zeiten sind mittlerweile Geschichte. Folglich richtet Müller am Ende seines Buches den Blick in die Zukunft: „Wagner ist dabei, ,normal‘ und auf lange Sicht weniger auffällig zu werden“, lautet die These des Autors. Mit der Pluralisierung der Deutungen seien die „alten Rituale und Referenzen des Wagner-Konsums“ zusehends auf dem Rückzug. Ein echtes politisches Problem, so Müller, sei Wagner heute nur noch in Israel. Insbesondere dieser letzte, nur mehr angedeutete Gedanke lässt bei uns Lesern den Wunsch aufkommen nach weitergehenden fundierten Untersuchungen zum Thema – Arbeitstitel: Richard Wagner und der „Rest der Welt“.
Gerhard Anders

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