Weinberg, Mieczyslaw
Zwölft Stücke (Miniaturen) op. 29 bis
für Flöte und Streichorchester, Partitur
Wissen Sie noch, wie das damals war, als Sie die aufregende Entdeckung eines für Sie neuen Komponisten machten? Der jugendliche Elan, mit dem Sie fasziniert den Klängen etwa einer Bruckner-Aufnahme lauschten, sich gebannt in Ihre erste Mahler-Partitur vertieften, geradezu elektrisiert auf Richard Strauss reagierten? Inzwischen kennen Sie sich in der Musikgeschichte so gut aus, dass Sie eigentlich nichts vergleichbar vom Hocker reißen kann wie damals (oder Ihnen das auch bei vertrautesten Kompositionen genau genommen ständig passiert, weil sich bei Bach, bei Beethoven, bei Schostakowitsch immer wieder neue Sichtweisen, neue Welten auftun)?! Dann sollten Sie auf jeden Fall damit beginnen, Mieczyslaw Weinberg für sich (und ein größeres Publikum) zu entdecken: Die Zwölf Stücke (Miniaturen) op. 29bis ziehen gleich vom Beginn der ersten Flötenkadenz (Nr. 1: Improvisation) mit ihrer Originalität und ihrem kompositorischen Reichtum in den Bann.
Schostakowitsch with a jewish accent, so charakterisiert der Weinberg-Experte David Fanning (University of Manchester) in Kurzform Weinbergs Stil. In der Tat war Weinberg eng mit Schostakowitsch verbunden, half ihm doch der zu diesem Zeitpunkt politisch wohlgelittene Komponist, 1943 in Moskau eine neue Existenz zu gründen. Man war in Freundschaft und Respekt einander verbunden, ja Schostakowitsch schätzte Weinberg als einen der besten sowjetischen Komponisten [
], die gleiche ,Wellenlänge in geistigen, kompositorischen und pianistischen Fragen prägte ihre Beziehung, und sie zeigten sich gegenseitig jede ihrer neuen Kompositionen (s. Vorwort der Notenausgabe). Seltsamerweise finden sich jedoch in der einschlägigen Schostakowitsch-Literatur selten Hinweise auf Weinberg, wobei man natürlich berücksichtigen muss, dass Letzterer der Jüngere von beiden ist und somit eine Einflussrichtung wenn überhaupt von Schostakowitsch ausgegangen sein dürfte.
Weinbergs op. 29bis ist klar zyklisch gedacht. Die Miniaturen sind voller äußerst reizvoller Anmut, musikalischer Gestaltungskraft, Originalität und Poesie. Der kadenzierende Beginn bedient sich zunächst harmlos Mitteln der Klassik (Gestus etwa eines Capriccio op. 3, 2 von Weiß), die melodisch alsbald aufs Schönste verfremdet in harmonischen Untiefen irrlichtern, um innerhalb kürzester Zeit doch wieder zur Ruhe zu kommen. Zeigte sich die Flöte in der Nr. 1 virtuos, so wird sie in Nr. 2 nur verhalten in das Streichquartett integriert. Chopin winkt aus einem fernen Reich herüber und übergibt in Nr. 3 im Hauptcharakter an Fauré, aber eben doch nicht, denn zu stark ist die Eigenheit Weinbergscher Klangsprache. In Nr. 4 begegnet uns dann plastisch und voller Dynamik tatsächlich Schostakowitsch. Man könnte die beiden Komponisten beinahe miteinander verwechseln.
Diese wenigen Beispiele mögen die kompositorische Bandbreite und Klangähnlichkeiten verdeutlichen, sollen jedoch nicht epigonal verstanden werden. Weinbergs Handschrift ist stark und leuchtend, faszinierend und groß. Nehmen Sie die Zwölf Stücke in Ihr Konzertrepertoire auf und entdecken Sie neu die Faszination authentischster Musik!
Christina Humenberger