Lütteken, Laurenz (Hg.)

Zwischen Tempel und Verein

Musik und Bürgertum im 19. Jahrhundert. Zürcher Festspiel-Symposium 2012

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Bärenreiter, Kassel 2013
erschienen in: das Orchester 09/2013 , Seite 67

In der Reihe „Zürcher Festspiel-Symposium“ ist in diesem Jahr der vierte Band erschienen. Die vorangegangenen Aufsatzsammlungen widmeten sich den Themen Musik und Mythos – Mythos Musik um 1900 (2008), Mendelssohns Welten (2009) sowie Sinfonie als Bekenntnis (2010).
Alle Beiträge und expressis verbis der vorliegende Band befassen sich mit dem 19. Jahrhundert, und das gilt in der Geschichtsforschung als das bürgerliche. „Im 19. Jahrhundert wurden feste Strukturen für die Musikkultur geschaffen“: Diese Tatsache war Ausgangspunkt des Symposiums. Der „Strukturwandel der Öffentlichkeit“, der sich im 18. und 19. Jahrhundert vollzogen hat, rückte neue Organisationsformen und Agenten in den Vordergrund der Gesellschaft. In Opposition zu Hof und Kirche begannen die Bürger, sich selbstbestimmt zu assoziieren. Sie bildeten Vereine, Zirkel, Clubs, Gesellschaften. In denen haben sie zwar unterschiedliche Interessen verfolgt, aber immer als Kinder desselben Geistes. Und der reichte vom Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein bis zur Gesellschaft der Musikfreunde. Zum Selbstverständnis des Bürgers gehört die Öffentlichkeit als Reich der Freiheit. Auch Tugenden wie Gemeinsinn, Verantwortung, Traditionspflege und Erziehung bewähren sich nur in der Öffentlichkeit. Man investierte Geld und wirkte als Mäzen.
Mit den Schwierigkeiten, genau zu bestimmen, was denn nun eigentlich Bürger und Bürgertum bezeichnen, schlagen sich – wie alle Versuche in der Geschichtswissenschaft – auch diese Aufsätze herum. Woran erkennt man den Bürger? An seinem beruflichen Status, an seiner Bildung oder seiner Beteiligung an einer kulturellen Praxis? An einem Merkmal ganz gewiss: an seiner Entschlossenheit zur autonomen Assoziation; an der Vereinsbildung im umfassenden Wortsinn. Denn Einigkeit macht stark und lässt auch das Kleine wachsen. Zumindest soweit, wie es das immer noch aristokratisch bestimmte Gemeinwesen zulässt.
In acht Aufsätzen kommen die Organisationsformen der Bürgerkultur im Allgemeinen zur Sprache, aber auch konkret wie im Beitrag über die deutschen Musikfestspiele. Vorgestellt werden die leitenden Ideen bei den Konzertsaalbauten und bei der Programmgestaltung der bürgerlichen Musikvereine: Unterhaltung oder Heiligung der Kunst? Am Beispiel der Wiener Gesellschaft der Musikfreunde lässt sich nachvollziehen, welche Aufgaben sich die Gründer gestellt und in ihrer Satzung niedergelegt haben. Die 1812 gegründete Allgemeine Zürcher Musikgesellschaft wird als bürgerliches Projekt einer kritischen Betrachtung unterzogen: War sie eine egalitäre Vereinigung von Kunstfreunden oder doch eher ein Knoten im Netzwerk anderer gesellschaftlich mächtiger Institutionen? Schließlich erfährt man unter dem Titel „Das Bürgertum schafft sich ab“ etwas über die Gründung der britischen Philharmonic Society im Jahr 1813.
Das macht neugierig – wie alle Beiträge, die ihrem Thema zwar unterschiedlich gut gerecht werden, in ihrer Gesamtheit aber ein anregend buntes Bild bieten.
Kirsten Lindenau