Bar-Gil, Eran

Zwillingsstern

Roman. Aus dem Hebräischen von Beate Esther von Schwarze

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Rowohlt, Berlin 2008
erschienen in: das Orchester 09/2008 , Seite 63

„Teil von etwas sein. Von einem Baum zum Beispiel. Einem Ast. Einem Zweig. Einem Blatt. Und fallen, schweben, gewichtslos, sorglos. Die Sorge selbst sein oder das Gewicht oder das Schweben. Der Fall sein oder das Blatt oder der fehlende Teil oder der verbindende Teil oder der ganze Baum, mit all dem Guten und Bösen und Bitteren, das in ihm steckt.“
Joni fühlt sich unvollständig. Und das nicht nur, weil sein Vater tot ist und er allein mit seiner Mutter lebt. Er ist langsam, hat ständig Konzentrationsschwierigkeiten und hängt mit den Jungs aus seiner Schule rauchend und Hühner klauend herum. Richtig wohl fühlt er sich nur, wenn er im Reitstall sein Pflegepferd betreut. Auch Dani ist allein. Er ist ein begabter Geiger, aber etwas fehlt seinem Spiel. Er, der schon als Kind von der Geige besessen war, sich regelrecht in sie verliebt hat, ringt darum, seiner Musik einen tieferen Ausdruck zu verleihen, ohne ihn zu finden. Auch als erwachsener Mann im Beruf des Orchestermusikers gelingt es ihm kaum, aus seinem inneren Gefängnis auszubrechen.
Joni und Dani sind Zwillinge. Gleich nach der Geburt voneinander getrennt und in verschiedenen Adoptivfamilien aufgewachsen, scheint es, als hätte sich ihre ursprüngliche Verbindung bereits im Mutterbauch tief in ihr Unbewusstes eingeschrieben, sodass sie, ähnlich wie in Platons Hälftengleichnis, beide nach ihrem Gegenpart suchen.
Eran Bar-Gil, 1969 in Israel geboren und dort als Autor und Musiker tätig, erzählt in seinem Roman Zwillingsstern mit der klangvollen, für akustische Phänomene sensibilisierten Sprache die Geschichte der beiden einsamen Brüder auf eine leise, einfühlsame und poetische Weise. Sein Buch, das im Jahr 2006 mit dem vom Verband Israelischer Verleger im Zweijahresturnus verliehenen Bernstein-Preis für den besten hebräischen Roman ausgezeichnet wurde, ist klug und komplex komponiert. Die Kapitel, die jeweils abwechselnd mit elementaren Phänomenen oder Gegenständen und einer musikalischen Satzbezeichnung überschrieben sind, umkreisen ihre Protagonisten in chronologisch loser Folge, fokussieren verschiedene Lebensphasen von Joni und Dani von deren Kindheit und Adoleszenz in den 1970er und 1980er Jahren bis ins Erwachsenenalter und warten mit überraschenden Wendungen im Geschehen auf.
Bar-Gil gelingen dabei sowohl genaue Beschreibungen der inneren Zustände seiner Figuren als auch Schilderungen der alltäglichen Realität Israels, dessen Zerrissenheit eine metaphorische Entsprechung in der Zerrissenheit der Zwillingsbrüder findet. Kürzlich hat die Journalistin und Publizistin Sylke Tempel, die selbst seit 25 Jahren Israel regelmäßig bereist und über ihre Erfahrungen berichtet, in einem Gespräch mit Werner Sonne im DeutschlandRadio anlässlich des 60. Jubiläums der Staatsgründung Israels diesen melancholischen Roman als Ausdruck des Schreibens einer jungen israelischen Schriftstellergeneration wärmstens empfohlen – die Empfehlung der intimen Kennerin dieses Landes und seiner Realität soll an dieser Stelle nachdrücklich bekräftigt werden.
Beate Tröger