Rinke, Hanno

Zerrissen

Ein Tagebuch in Briefen

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: EVA, Hamburg 2008
erschienen in: das Orchester 05/2009 , Seite 63

Um es gleich zu sagen: Der Umfang dieses Buchs steht in reichlich schiefem Verhältnis zu dessen Gehalt. Vielleicht erklärt sich dies in dem knappen Vorwort, in dem der Autor bekennt: „Ein Leben ohne Paradoxon scheint mir weder möglich noch wünschenswert.“ Hanno Rinke, 1946 in Berlin geboren, war nach dem Jura- und Musikstudium als Produzent für die Deutsche Grammophon tätig und ist auf diese Weise vielen prominenten Künstlern begegnet, darunter Mstislav Rostropowitsch, Lorin Maazel, Seiji Ozawa, Martha Argerich, Leonard Bernstein, Krystian Zimerman und Ivo Pogorelich. Dies weist der Klappentext aus und lässt erwarten, endlich mehr, vor allem Näheres und Tiefgründigeres über den Charakter, die Arbeitsweise und den künstlerischen wie außerkünstlerischen Alltag solcher Persönlichkeiten zu erfahren, die der musikalische Normalverbraucher oder auch Orchestermusiker ansonsten nur vom Konzertpodium, von CD und Rundfunk kennt.
Daraus wird aber nichts, jedenfalls nicht viel, denn im Zentrum seiner Betrachtungen steht der Autor selbst, stehen dessen Ansichten zu Leben und Tod, seine täglichen Verrichtungen aller Art, vor allem und immer wieder seine homophilen Sexualkontakte, wobei die auch bei den knappen Beschreibungen der Künstler und deren Anhang ständig dokumentiert werden; anderenfalls erfährt man höchstens etwas über ihre Ess- und Trinkgewohnheiten. Tatsächlich scheint das rosa Fädchen in diesem dicken Band in dem unaufhörlichen Drang des Autors zu bestehen, als Schwuler das Selbstverständliche seiner Sexualität nachzuweisen und dafür auch jede Menge mehr oder weniger prominente Zeugen auftreten zu lassen. Das ermüdet, offen gestanden, nach einer Weile, wenngleich Rinke durchaus sprachgewandt ist, einen gerne ironisierenden Humor besitzt und streckenweise Aperçu an Aperçu reiht.
Freilich kann der Leser, da es keine fortlaufende Handlung gibt, ungestraft einmal hundert Seiten überschlagen, um sich dann wieder in den schnodderigen Smalltalk einzufädeln oder gleich noch einen Sprung zu tun. Erst fast am Ende, sieht man von einigen verstreuten Passagen ab, als Rinke um seinen an AIDS gestorbenen Lebenspartner trauert, wird der Text sprachlich und gedanklich dichter, verliert alles Banale und Voyeuristische, lässt sogar Anteilnahme zu. Aber wie anfangs gesagt: Die kritische Bilanz bei diesem Buch fällt im Gegensatz zu seinem Umfang eher mager aus.
Michael Jenne

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