Zehme, Henriette

Zeitgenössische Musik und ihr Publikum

Eine soziologische Untersuchung im Rahmen der Dresdner Tage der zeitgenössischen Musik

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: ConBrio, Regensburg 2005
erschienen in: das Orchester 10/2005 , Seite 73

Der Soziologe, sagt ein amerikanisches Bonmot, ist ein Mensch, der sich für 4000 Dollar Schmiergeld zum stadtbekannten Bordell durchfragt. Man erwarte also besser nichts überraschend Neues von ihm. Dennoch: Die Tatsache, dass auch die vorliegende soziologische Untersuchung des Publikums von zeitgenössischer Musik im Wesentlichen die vom Leser erwarteten Antworten liefert, nimmt nichts von ihrem Wert als lohnende Lektüre und Quelle von Erkenntnissen. Je exklusiver und voraussetzungsvoller das kulturelle Angebot, desto unruhiger stellen sich Konzertveranstalter, Opernintendanten und Programmdirektoren die Frage: Wer besucht uns eigentlich, wer hört uns zu und warum? Gerade auf dem Feld der modernen Musik hat die Rede vom Publikum als unbekanntes Wesen ihre Berechtigung.
Hier etwas Licht ins Dunkel zu tragen, versuchte – ganz professionell – die 1972 in Dresden
geborene Sozialwissenschaftlerin Henriette Zehme. Sie verlor sich dabei nicht im schlechten Allgemeinen, sondern grenzte ihr Untersuchungsfeld ein, indem sie – mit durchaus exemplarischem Anspruch – das Publikum der 13. Dresdner Tage der zeitgenössischen Musik 1999 erforschte. Die Tage wurden in der Zeit des Festivalbooms von einem stadteigenen Institut im Jahr 1986 gegründet und machten die moderne Musik nach lang währender Isolation in der DDR wieder gesellschaftsfähig. Für die Studie wurden also Personen schriftlich und mündlich befragt, die durch den – oft sogar wiederkehrenden – Besuch in Dresden ihr Interesse an der zeitgenössischen Musik bereits dokumentiert hatten. Das Motto der 13. Dresdner Tage lautete „Schönheit als verweigerte Gewohnheit“.
Auch wenn die Sache mit der verweigerten Gewohnheit überall in der modernen Kunst eine zentrale Rolle spielt, ist die Musik der Gegenwart doch keineswegs aus einem ästhetischen Guss, sondern bindet sich in ihren Strömungen unterschiedlich eng an die Tradition und entfaltet höchst unterschiedliche Grade an Komplexität. Dafür standen in Dresden zwei Konzerte (nebst Workshops): das angenehm zu hörende von und mit Michael Nyman (Minimal Music) und das mit allen Hörgewohnheiten und Schönheitsvorstellungen brechende von und mit Helmut Lachenmann.
Henriette Zehme stellte sich vor allem die Frage, ob „hier ein eher spezialisiertes Fachpublikum mit umfassenden musikalischen Kenntnissen und einer Tätigkeit im Musikbereich oder ein eher unspezialisiertes, generell an Hochkultur interessiertes und für Neues aufgeschlossenes Publikum zu finden ist“. Dieser Ansatz lag nahe, denn die Veranstaltungen der Dresdner Tage reichten von Sinfonik und Musiktheater bis zu experimentellem Tanz und von der Kammer- bis zur elektronischen Musik. Die Autorin verwendete für ihre Studie das Konzept der Szene, wie es der Soziologe Gerhard Schulze in seinem Buch Die Erlebnisgesellschaft (1997) entwickelt hat. Darunter wird ein „Raum erhöhter Binnenkommunikation für die Angehörigen eines bestimmten Milieus“ verstanden. Dieser Bestimmung folgend, ist „das Festival der Neuen Kulturszene und der Hochkulturszene zuzurechnen.“
Neben der eigentlichen Befragung, als deren Fazit – wie erwartet – die Faktoren Bildung und Alter als Gründe für die Zuwendung zur zeitgenössischen Musik kräftig durchschlagen, bietet Zehme einen gut zu lesenden Überblick über die Merkmale der zeitgenössischen Musik und spendet neuen Stoff zur alten Frage Alban Bergs, warum sie so schwer zu hören sei.
Kirsten Lindenau