Weill, Kurt

Zaubernacht

Rubrik: CDs
Verlag/Label: cpo 777 767-2
erschienen in: das Orchester 06/2013 , Seite 70

Eine Entrümpelungsaktion an der Yale University förderte im Jahr 2005 Erstaunliches ans Licht: In einem vergessenen Tresor entdeckten Bibliotheksangestellte einen Satz von Orchesterstimmen zur Zaubernacht von Kurt Weill, anhand derer die Original-Instrumentation des bis dahin nur im Klavierparticell überlieferten Werks rekonstruiert werden konnte. Mit der Musik zur Zaubernacht, einer Kinderpantomime nach einem Libretto des russischen Theatermachers Wladimir Boritsch, hatte der bis dahin unbekannte Kurt Weill im Jahr 1922 in Berlin erstmals öffentlich auf sich aufmerksam gemacht. Anhand des wiederaufgetauchten Notenmaterials konnte dieses Bühnenwerk 2010 im Rahmen des Stuttgarter Musikfests Wiederauferstehung feiern. Den Instrumentalpart gestaltete damals das von Solisten der NDR Radiophilharmonie gegründete Arte Ensemble, welches auch für die vorliegende Ersteinspielung von Weills Schauspielmusik in ihrer ursprünglichen Fassung auf CD verantwortlich zeichnet.
Was der neugierige Hörer vernimmt, ist sicher noch nicht jene Musiksprache, die er von der späteren Dreigroschenoper oder Weills Mahagonny im Ohr hat. Zur Geschichte der Zaubernacht, in der eine Spielzeugfee zu mitternächtlicher Stunde im Kinderzimmer eines Geschwisterpaares diverse Spielzeuge zum Leben erweckt, schuf Weill eine Musik, die noch weitgehend auf Standards des 19. Jahrhunderts zurückgreift: auf Walzer und Marsch, zu denen sich sogar eine historisierende Gavotte gesellt. Das anfangs von Ania Vegry angestimmte „Lied der Fee“ ist noch kein typischer Weill’scher „Song“, und lediglich mit einem Foxtrot, zu dem in der Pantomime ein Bär tanzt, ist bereits ein Modetanz US-amerikanischer Provenienz in der Partitur der Zaubernacht vertreten.
Dennoch meint man in dieser Musik schon den burschikos-leichten Ton des späteren Weill zu vernehmen. Die kammermusikalisch durchsichtige Besetzung mit solistischen Streichern, Flöte, Fagott, Klavier und Schlagzeug, ursprünglich Sparzwängen geschuldet, zeigt den Busoni-Schüler Weill bereits als ausgebufften Instrumentator, der mit den gegebenen Mitteln in raffinierten Kombinationen eine ungemeine Farbigkeit der Klänge erreicht. Durch sein wunderbares Einfühlungsvermögen bringt das Arte Ensemble Weills Partitur mit ihren permanenten Tempo- und Charakterwechseln wie ihrer geradezu gestischen Plastizität zum Klingen: durchsichtig und schwungvoll, gutgelaunt und pfiffig. Bei der wohl engen Anlehnung der Musik an die szenischen Ereignisse hätte man allerdings gerne aus dem Booklet genauere Bezüge zur Handlung erfahren.
Wenn man dieser Zaubernacht-Musik lauscht, entdeckt man weiterhin, dass Kurt Weills Musik oft verblüffende Verwandtschaft mit derjenigen Gustav Mahlers zeigt, sei dies direkte Anlehnung oder gemeinsame Inspiration durch die jüdische Musiktradition. Für Ersteres spräche, dass Weills Musik der Mahler’schen in ihren Scherzo- oder Marsch-Abschnitten gelegentlich bis zum Zitat nahe kommt.

Gerhard Dietel