Zakhar Bron unterrichtet

Jean-Baptiste Accolay / Johann Sebastian Bach / Charles Auguste de Bériot / Oskar Rieding / Antonio Vivaldi, deutsch-englisch-russisch

Rubrik: DVDs
Verlag/Label: AMA 610310-610314, 5 DVDs
erschienen in: das Orchester 02/2006 , Seite 91

Was ist das Besondere am Konzert in a-Moll von Oskar Rieding, das den renommierten Geiger und Pädagogen Zakhar Bron veranlasst, diesem Werk eine eigene Unterrichts-DVD zu widmen? So sollte man nicht fragen, denn man erfährt beim Zuhören und Zuschauen weder bei diesem noch bei den anderen vier Konzerten der DVD-Reihe besondere Tricks der Technik oder der Interpretation.
Was man erfährt, ist etwas anderes: Wie ernst auch ein „Schülerkonzert“ zu nehmen ist, wenn man das Unterrichten ernst nimmt. Mit manchmal geradezu verzweifelter Hingabe versucht Bron dem eher passiven Schüler Leonid anhand der ersten Rieding-Takte das Wesen des kantablen Legato-Spiels nahe zu bringen, das etwas mit der Endlichkeit des Bogens und der Unendlichkeit der Melodie zu tun hat. Das Konzert von Rieding wird also nicht irgendwie absolviert, sondern erarbeitet; es erweist sich als eine Hürde, die allem weiteren vorangestellt ist.
Dann wird auch klar, welches Glück es bedeutet, das a-Moll-Konzert von Vivaldi spielen zu dürfen. Hier ist es die begabte Schülerin Lisa, die durchaus weiß, was sie will, aber doch, ohne es zu merken, Grundfehler in der Deklamation macht. „Du reißt schon wieder am Bogen!“, wendet sich Bron nach mehreren Versuchen enttäuscht ab, „was soll ich nur mit dir noch anstellen?“ Aber dann hat sie es doch verstanden und der langsame Satz blüht zu einem anrührenden Gesang auf. Zuwendung und Abwendung des Lehrers sind hier nicht gespielt, sondern Ergebnis eines Lehrverständnisses, das weit hinter das Notenbild reicht.
Natürlich kann man gegen den Unterrichtsstil von Zakhar Bron Bedenken geltend machen, aber es wird ohnehin nicht gelingen, dieses sehr persönliche Vorgehen zu kopieren. Dass seine Schüler ihn auf der Geige nachahmen, ist Bestandteil des Konzepts, denn Bron ist der Typ des vorspielenden, sogar eingreifenden Lehrers, der den Bogenarm des Schülers oder gleich ganz den Bogen führt – mit erstaunlichem klanglichen Ergebnis. Die Auffassungen des Stoliarski-Absolventen Bron machen deutlich, was das russische Geigenspiel auch heute noch von westlichen Lehr- und Interpretationsweisen unterscheidet. Dennoch kann man sich gut vorstellen, dass eine Schülerin wie Lisa – sie spielt auch das Bach-a-Moll-Konzert – stilistisch ihren eigenen Weg gehen wird. Und Bron meint es wohl auch nicht nur „romantisch“, wenn er bei Vivaldi und Bach Vibrato fordert. Dass die Musik aus der großen Zeit des italienischen Geigenbaus im „Geigerischen“ mit der romantischen einiges gemeinsam hat, ist in der russischen Schule selbstverständlicher als bei westlichen Barockgeigern. Bei einem Zuviel kann auch Bron unwillig werden: „Ich habe gesagt, wenig Vibrato!“ Und was er sagt, muss befolgt werden.
Die zwei Mädchen und zwei Jungen, etwa neun bis zwölf Jahre alt, wurden von ihren Lehrern auf den Meisterkurs bei Zakhar Bron in St. Petersburg vorbereitet. Bei den mitgeschnittenen fünf Unterrichtsstunden im Weißen Saal des Sheremetev-Palasts spielen sie ihre Stücke zunächst durchgehend mit Klavierbegleitung meist fehlerlos vor. Bron akzeptiert bis auf geringe Ausnahmen ihre Fingersätze und Bogenstriche und übernimmt sie auch für sein Vorspielen. Der zur DVD mitgelieferte Notentext dagegen enthält seine eigenen Bezeichnungen. Wenn er mit dem musikalischen, aber nicht gerade schnell reagierenden Schüler Dmitrij viele Minuten an den ersten zwei Takten des Bériot-Konzerts arbeitet und ihn dabei die aufsteigenden Zweiunddreißigstel im schnellen Detaché erst nur auf der G-Saite, dann auf G und D und schließlich auf allen vier Saiten üben lässt, dann sieht man erstaunt, dass in seinen eigenen Bezeichnungen sieben der acht Noten unter einem Bindebogen stehen.
Wie auch immer der Notentext aussieht – Bron verlangt perfekte Ausführung. Da gibt er denn auch praktische Tipps und rät Dmitrij, bei Oktaven immer die unteren, nicht die oberen Noten lauter hörbar zu spielen. Oder er klärt die kleine Elina beim Accolay-Konzert darüber auf, dass der Übergang vom Flageolett zum gegriffenen Ton durch die Luft stattfinden muss, weil der Flageolett-Ton auch ohne Berühren der Saite weiterklingt. Dass sie den Finger auf der Saite lässt, „ist unprofessionell“. Professionalität erwartet er auch von der Jüngsten, denn alle diese Schüler werden einmal das Geigenspiel zu ihrem Beruf machen.
Reinhard Seiffert