Nikolaus Harnoncourt

Wir sind eine Entdeckergemeinschaft

Aufzeichnungen zur Entstehung des Concentus Musicus, hg. von Alice Harnoncourt

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Residenz
erschienen in: das Orchester 03/2018 , Seite 59

Aus dem Nachlass hat Alice Harnoncourt eine Zusammenstellung sehr persönlicher, ursprünglich nicht für die Öffentlichkeit bestimmter Dokumente ihres 2016 verstorbenen Mannes herausgegeben: eine Tagebuchchronik und eine Sammlung von Essays und Notizen, haupt­sächlich aus seiner produktivsten Zeit als Cellist, Ensembleleiter, Erforscher eines unentdeckten Repertoires und Originalklang-Sucher.
Um zu verstehen, warum Nikolaus Harnoncourt und seine Mitstreiter seit den 1950er Jahren eine kopernikanische Wende in der Interpretation eingeleitet und vorangetrieben haben, sollte man in diesem Band mit dem Essay über eine Aufführung der Matthäuspassion 1969 im Wiener Musikvereinssaal unter Karl Richter beginnen.
Die beißende Satire verdeutlicht anhand der Beschreibung einer der Wortausdeutung enthobenen und gefühlsüberladenen Passionsinszenierung, weshalb Urtext-Bezug und Orientierung am Originalklang als unbedingt notwendig empfunden wurden; jedenfalls von den Harnoncourts und ihrem Concentus, bald von immer mehr Musikern, die sich dieser „Opposition“ außerhalb der Orchester anschlossen. Längst ist die Frage nach dem Originalklang auch dort angekommen und wird mit zahlreichen Kompromissvarianten zwischen Anspruch auf Authentizität und Ausführbarkeit in modernen Konzertsälen beantwortet.
Wie alles begann, kann man in diesem Band nachvollziehen. Seinem Dienst bei den Wiener Symphonikern entfremdet Harnoncourt sich bald, verlässt das Orchester aber erst 1969, nachdem er in zehnjähriger Kleinarbeit den Concentus aufgebaut und mit seiner historischen Aufführungspraxis erste große Erfolge gefeiert hat.
Er bricht endgültig mit dem traditionellen Musikbetrieb, als er in seinem legendären Spiegel-Gespräch 1970 durch eine Indiskretion des Interviewers, wie er schreibt, zum musikalischen Bilderstürmer wird. Ein Ergebnis: Herbert von Karajan, unter dessen Leitung er achtzehn Jahre zuvor bei den Symphonikern sehr vielversprechend begonnen hatte, erzürnten seine Verbalinjurien dermaßen, dass er einen Bann über ihn aussprach: „Solange ich lebe, kommt der nicht in die Salzburger Festspiele.“ So sollte es auch kommen.
Auch dem Dirigentenkult stand Harnoncourt kritisch gegenüber. Er sollte sich später selbst am Dirigentenpult wiederfinden und mit seinem werkbezogenen Stil neue Standards setzen und sein Repertoire
bis in die klassische Oper erweitern. Darüber erfährt der Leser fast nichts, denn die Aufzeichnungen versiegen Anfang der 1980er Jahre. Dafür erhält er einen genauen Einblick in die Arbeitsweise derjenigen Musiker, die die historische Aufführungspraxis mit allen damit verbundenen Aspekten für sich und die Musikwelt entdeckten. Verzeichnisse von Aufführungen, Werken und Personen sind in diesem Band leider nicht zu finden, dafür eine Fotoauswahl. Es sollte eben ein persönliches und kein musikwissenschaftliches Buch werden. Das ist sicherlich gelungen.
Karim Hassan