Stockmann, Angelika

Wie üben? Das “Wie” üben!

Teil II: Erfolgreich üben. Strategien zum Selbstmanagement

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: das Orchester 07-08/2008 , Seite 32
Bei der Bewältigung von Spielbeschwerden und Bühnenängsten bei Musikern ist das Üben immer wieder ein zentrales Thema. Viele physische und psychische Beschwerden entstehen oder manifestieren sich durch falsches Üben. Ausgehend von den Erkenntnissen der Neurophysiologie sowie aus der dispokinetischen und formativen Praxis werden im Folgenden positive Strategien für das Üben aufgezeigt. Teil I dieses Beitrags ist in Ausgabe 6/08 erschienen.

Wenn das Üben keinen Spaß macht, der Übeerfolg ausbleibt oder auf der Bühne das zuvor Erarbeitete nicht verlässlich abrufbar ist, stellt sich Musikern die Frage nach dem „Wie“ ihres Übens. Teil I dieses Beitrags beschäftigte sich mit dem lösungsorientierten Üben. Ausgehend von der musikalischen Klangvorstellung können verlässliche (Bewegungs-)Vorstellungen kreiert werden, die im entscheidenden Moment auf der Bühne abrufbar sind. Lösungsorientiertes Üben fokussiert im Gegensatz zum ergebnisorientierten Üben nicht den erhofften Erfolg. Stattdessen führt Selbstbeobachtung zu einem differenzierten sensomotorischen Feedback und damit zu Verlässlichkeit.
Das Üben mit der Frage nach dem „Wie“ ist anspruchsvoll und erfordert Aufmerksamkeit. Dafür ist es effektiv, spart Zeit, orientiert sich an positiven Körpergefühlen und kann so Musikererkrankungen vorbeugen. Im nun folgenden zweiten Teil sollen die emotionalen bzw. neuronalen Voraussetzungen aufgezeigt werden, unter denen das lösungsorientierte Üben gelingen kann.

Aufmerksamkeit
Wiederholung sorgt im Nervensystem für die Modifikation und Stabilisierung von Synapsenstärken. Solche Modifikationen finden nur an Synapsen statt, die aktiv sind. Je aktiver neuronales Gewebe in einem bestimmten Bereich der Gehirnrinde ist, desto eher findet in ihm Veränderung von Synapsenstärken und damit Lernen statt. Aufmerksamkeit ist der Auslöser für stärkere Aktivierung derjenigen Areale, in denen gelernt werden soll. Aufmerksamkeit ist demzufolge die Voraussetzung, um lösungsorientiert üben zu können. Sie ermöglicht es, sich Körper- und Bewegungsgefühle bewusst zu machen und z.B. das Angemessene und Leichte zu wählen, statt stereotyp zu wiederholen. Nicht zu lange Übeeinheiten und regelmäßige Pausen helfen, immer wieder mit der gewünschten Qualität bei der Sache sein zu können.

Aha-Erlebnisse
Das Gehirn speichert in seinen neuronalen Repräsentationen das Gelernte. Es leitet aus den Erfahrungen „Regeln“ ab, mit denen es ständig das Geschehen gewissermaßen voraussagt. Insofern werden viele Vorgänge auch beim Üben gar nicht mehr im Gedächtnis festgehalten, weil sie implizit bereits gespeichert sind. Gelegentlich aber, wenn das Tun besser ist als erwartet, wird gelernt. Was neu ist und positive Konsequenzen hat, wird gespeichert. Dieser Vorgang hat mit dem „Belohnungshormon“ Dopamin zu tun. Es wirkt wie ein Türöffner und führt zu Weiterverarbeitung, zum Lernen. Aufmerksamkeit und Selbstbeobachtung ermöglichen solche Aha-Erlebnisse! Sie haben für die Weiterentwicklung des Musikers eine enorme Bedeutung, zumal hier etwas gewonnen wird, das viel mehr wiegt als Erkenntnis: eine gefühlte Erfahrung. Solche Erfahrungen motivieren und beflügeln und sind ein Indikator, auf dem richtigen Weg zu sein. Musiker sollten beim Üben eine positive Entdeckung „feiern“, indem sie innehalten und sich das „Wie“ und die Bedeutung dessen, was sie getan haben, bewusst machen. Diese Rückmeldung stimuliert Lernen.
In diesem Sinne kommt dem Lehrer im Unterricht eine entscheidende Rolle für das Übeverhalten des Schülers zu: Negativ formulierte Kritik ruft schnell eine (motorische) Hemmung hervor. Positive Verstärkung des gewünschten Verhaltens dagegen begünstigt Lernprozesse. So wird die Unterrichtssituation zu einem Exempel für das Üben, denn Üben ist letztlich nichts anderes, als sich selbst zu unterrichten.

Vorstellungen
„Wenn ich doch gründlich geübt und alles hundertmal wiederholt habe, warum ist die Stelle dann im Konzert doch schief gegangen?“ Um diese Frage beantworten zu können, noch einmal ein Blick auf die Funktionsweise des Gehirns. Aus welchen Komponenten setzt sich die neuronale Repräsentation beispielsweise eines schwierigen Laufs zusammen? Das Gehirn „denkt“ in Bildern, ganzheitlich. Bewegungserinnerungen, Gefühle, Empfindungen, Stimmungen usw. sind mit eingeschlossen. Weil für so differenzierte Vorgänge wie z.B. das Spielen eines Instruments viele plastische „Karten“ miteinander verschaltet werden, handelt es sich um ein sehr assoziatives und komplexes Bild, in dem viel mehr Aspekte eine Rolle spielen als das, was der Übende über einen Bewegungsablauf oder seine (gute) Absicht sagen könnte.
Dabei spielen gewohnte Haltungs- und Bewegungsmuster eine entscheidende Rolle. Diese sind möglicherweise ursprünglich gar nicht in Verbindung mit der instrumentalen Entwicklung entstanden, wirken sich aber durchaus darauf aus. Wohin bin ich in meiner Haltung gerichtet? Weiche ich zurück? Wie wirkt sich diese Ausgangshaltung auf meinen Kontakt zum Instrument aus? Bin ich fleißig und gewohnt, mich anzustrengen und mein Bestes zu geben? Wie beeinflusst diese Anstrengung meine Bewegungsabläufe und den Klang? Die meisten kortikalen Areale erhalten ihren Input nicht von der Außenwelt, sondern von anderen kortikalen Arealen. Auf jede Faser, die in das Großhirn (Areal des Gehirns für Willkürbewegungen) hineingeht und sie wieder verlässt, kommen zehn Millionen interne Verbindungen. Das heißt, neurobiologisch gesprochen sind wir vor allem mit uns selbst beschäftigt. Das Gehirn ist vor allem mit sich selbst im Dialog. Deshalb ist es so hilfreich, sich beim Üben seiner Vorstellungen bewusst zu sein. Sie sind der „Stoff“, aus dem Verhalten gemacht ist.

Emotionen
Emotion (lat. emovere) heißt soviel wie bewegt werden, z.B. von Musik. Gefühle lösen neben einem kognitiven, qualitativ-gefühlsmäßigen Aspekt auch eine Bewegungsqualität aus. Wie schon weiter oben festgestellt, werden Spielbewegungen sowohl durch Ausdruckswillen als auch durch unwillkürliche Effekte des Nervensystems (allgemeine Befindlichkeit) positiv oder negativ beeinflusst. Das Gehirn braucht jedenfalls die emotionale Komponente, Neugier, Interesse, inneres Beteiligtsein, um zu lernen. Üben trotz Lustlosigkeit oder Müdigkeit schadet, weil beim „sinnlosen“ Wiederholen unter Umständen auch Dinge geübt werden, die eigentlich gar nicht gespeichert werden sollen. Habe ich den Mut, mit dem Üben aufzuhören, wenn ich spüre, dass es eigentlich nichts mehr bringt? Oder muss ich mein Gewissen mit dem Erfüllen eines bestimmten Pensums beruhigen? Woran merke ich eigentlich, dass ich müde werde? Beginnen meine Augen sich anzustrengen, werde ich unruhig oder schweife mit meinen Gedanken ab?
Musiker sollten sich selbst gut kennen, um auf Dauer zufriedenstellend und professionell üben zu können. Die Praxis zeigt, dass besonders die jungen Musiker und Musikstudenten Bestätigung und Ermutigung brauchen, ihren eigenen Übestil zu entwickeln – vor allem, wenn sie festgestellt haben, mit wie wenig sie eigentlich auskommen.

Angst
Das limbische System ist gewissermaßen das Tor zur Großhirnrinde, wo willkürlich gelernt wird. Aufmerksamkeit, emotionales Beteiligtsein und Motivation öffnen den Zugang zum Speicher, Angst verschließt ihn. Hierfür sind die Mandelkerne verantwortlich. Sie sorgen dafür, dass der Mensch unangenehme Erlebnisse schnell speichert, aber in Zukunft vermeidet.
Angst hemmt zudem kreative Prozesse und die Möglichkeiten zu Verknüpfung und Assoziation. Auf diese Weise verhindert sie die Anwendung von Gelerntem auf viele Situationen und Beispiele. Genau das aber sollte ja durch Üben ermöglicht werden: einmal Gekonntes auf andere Stücke und Situationen zu übertragen. Üben ist dazu da, Schritt für Schritt besser zu werden.
Musiker mit Bühnenangst erleben in der akuten Vorspielsituation die Wirkung von Angst: Sie nimmt „gefangen“, macht „eng“ und „unfrei“. Angst beherrscht das Denken durch Horrorszenarien oder Blackouts besonders dann, wenn es nichts anderes gibt, worauf sich positiv die Aufmerksamkeit richtet. Ein erfahrener Solist formulierte es so: „Ich habe auf der Bühne keine Zeit, um Angst zu haben. Ich bin ganz und gar mit Beethoven beschäftigt und mit dem, was ich mir vorgenommen habe.“ Das, was auf der Bühne geschieht, ist das Ergebnis von Vorbereitung. Wer übt, um positive Vorstellungen und gute Gefühle zu sammeln und um Musik zu interpretieren, hat weniger Raum für Angst.

Stress
Akuter dosierter Stress, wie Musiker ihn beim Lampenfieber im Konzert kennen, kann sich positiv auf unsere Leistungsfähigkeit auswirken. Chronischer Stress dagegen ist ungünstig für das Lernen und die Verfügbarkeit von Gelerntem. Musikern ist manchmal nicht bewusst, wie sie in der Vorbereitung auf ein Probespiel, eine Prüfung oder ein wichtiges Konzert schon beim Üben Angst oder Stress organisieren. Indem sie sich z.B. verspannen, hemmen sie unbewusst den Lernprozess und üben auch ihren Zweifel.
Da Befindlichkeiten „mitgeübt“ werden, sollte man Üben unter Stress vermeiden und erst einmal für Wohlbefinden sorgen. Bevor ich beginne zu üben, kann ich einen Augenblick meine Aufmerksamkeit auf mich selbst richten. Wie sitze oder stehe ich? Wie verschaffe ich mir Stabilität? Haben meine Füße aktiven Kontakt zum Boden? Fühle ich mich im Oberkörper frei? Vielleicht bin ich unruhig und verspüre Anspannung in Kopf, Augen und Nacken. Kann ich die Spannung in Augen und Nacken verringern? Wie wirkt sich das auf meine Gesamtverfassung aus? Wie ist es, von hier aus mit dem Spielen zu beginnen? Zu wissen, was einem in diesem Moment gut tut, soweit möglich den richtigen Zeitpunkt für das Üben wählen usw. sind weitere Aspekte von Selbstmanagement, die die Effizienz des Übens entscheidend beeinflussen.

Selbstkompetenz statt Bühnenangst
Bühnenangst ist wie jedes andere Gefühl eine körperliche Organisation. Indem Musiker beim Üben lernen, ihren Körper als Instrument anders einzusetzen, verändert sich auch die Angst: Eine gute Disposition, in der ich „festen Boden unter den Füßen“ spüre, ist zugleich die Basis für eine gut funktionierende Atemstütze. Eine exzentrische, also sich in den Raum öffnende Ausgangshaltung, beim Üben wie im Alltag verinnerlicht, verhindert am ehesten die „Enge“, die uns sonst auf der Bühne möglicherweise überfällt. Verlässliche Vorstellungen feinmotorischer Bewegungsabläufe lassen den Muskeltonus in kritischen Situationen nicht so in die Höhe schnellen, dass Streicher beispielsweise die Kontrolle über ihren Bogen verlieren.
Selbstbeobachtung führt zu Selbstbewusstsein. Dies ist der Schlüssel, um sich selbst positiv beeinflussen zu können. Sinn und Ziel des Übens für den Musiker ist es, Einfluss zu nehmen auf das, was geschieht, und so seine Entwicklung zu managen.

Lernen heißt sich verändern
Das Üben kann für Musiker ein Spielfeld sein, auf dem sie ihre Möglichkeiten der persönlichen Einflussnahme erproben. Das Wiederholen stereotyper Abläufe kann Muster festigen, die Musikern möglicherweise nicht bewusst sind, sich aber hemmend auf ihr Spiel auswirken. Demgegenüber sollte das Üben ein kreativer Gestaltungsprozess sein, in dessen Verlauf sich der Musiker mit seiner Musik verändert. Dies ist meines Erachtens auch bedeutsam im Hinblick auf die Erfordernisse der Musikerausbildung.
Es ist erfreulich, dass Musikhochschulen mehr und mehr Angebote bereithalten, um die Entwicklung und Kenntnisse ihrer Studenten auf dem Gebiet der Musikphysiologie, Körperarbeit usw. zu stimulieren. Es ist wünschenswert, dass auch im Hauptfachunterricht in diesem Bewusstsein gearbeitet wird. Ein solcher Unterrichtskontext erleichtert nicht nur den unmittelbaren Transfer auf das Instrument: Er ermutigt und befreit den Schüler zu Eigenständigkeit und Kreativität. Künstlerische Professionalität ist ohne Selbstkompetenz nicht möglich. Selbstkompetenz ist die Voraussetzung für eine gelungene Entwicklung künstlerischer Persönlichkeiten.

Literaturhinweise
– Antonio R. Damasio: Ich fühle, also bin ich. Die Entschlüsselung des Bewusstseins, München 2000
– Horst Hildebrandt: Musikstudium und Gesundheit. Aufbau und Wirksamkeit eines präventiven Lehrangebots, Bern 2002
– Stanley Keleman: Forme Dein Selbst. Wie wir Erfahrungen verkörpern und umgestalten, München 1994
– Manfred Spitzer: Lernen. Gehirnforschung und die Schule des Lebens, Heidelberg 2007 (Neuausgabe)
– Manfred Spitzer: Musik im Kopf. Hören und Musizieren, Verstehen und Erleben im neuronalen Netz, Stuttgart 2002