Raphael, Aksinia (Hg.)
Werkstatt Musiktheater
Walter Felsenstein in Bildern von Clemens Kohl
Kommt dieses Buch nicht viel zu spät? Oder kommt es vielleicht gerade recht? Walter Felsenstein, fast drei Jahrzehnte Intendant der Komischen Oper in Berlin, Begründer des realistischen Musiktheaters, Urgestein der deutschen Opernregie, starb 1975. Clemens Kohl (1932–1983), passionierter Hobbyfotograf, war seit 1983 Chormitglied an der Komischen Oper, als solcher offiziell Chorsolist. Felsenstein selbst hatte diesen Begriff eingeführt, um die Individualität der Chorsänger und ihre Verantwortlichkeit für die Inszenierung herauszustellen. Bei den in Werkstatt Musiktheater dokumentierten Aufführungs- und Probensituationen gibt es tatsächlich kein spannungsloses Herumstehen: Wenn es darauf ankommt, hat jeder Darsteller Spannung, steht jeder Akteur in einem szenischen Kontext.
Kohl dokumentierte die Arbeit seines Theaterleiters in zahlreichen Fotos, die 1975 unter dem Titel Felsenstein auf der Probe erschienen. Ein weiteres Buch-Projekt, ein Gedenkband nach Felsensteins Tod, blieb durch Kohls eigenen frühen Tod unvollendet liegen. 22 Jahre später hat nun Aksinia Raphael, Buchgestalterin in Berlin, das von Kohl gesammelte Material zu einer großen Felsenstein-Hommage in Wort und Bild gebündelt. Eingeleitet wird der Band durch ein Geleitwort von Hans-Jochen Genzel, der von 1983 bis 1998 als Chefdramaturg der Komischen Oper amtierte. Er zeichnet darin ein kompaktes, aber intensives Bild von Felsensteins Persönlichkeit und Arbeitsweise. Es folgen sehr lebendige Aufführungs- und Probenfotos aus elf Produktionen, Nachrufe und kurze Erinnerungen bedeutender Musiker und Theaterleute und einige betriebsinterne Aufführungskritiken Felsensteins. Hier zeigt der Bühnenchef sich großzügig im Lob, unerbittlich in der Kritik und immer wieder bereit, sich als Zuschauer einer eigenen Produktion auch von der soundsovielten Repertoire-Vorstellung neu fesseln und erregen zu lassen.
Felsenstein setzte Maßstäbe, aber er nahm sich auch die Zeit dafür. In keinem Theater der Welt konnte soviel probiert werden. (Genzel auf S. 23). In der Geschichte des Theaters dürfte es überhaupt nur wenige Bühnenleiter gegeben haben, die neben ihrer administrativen Funktion zugleich solch eine künstlerische Präsenz zeigten. Bemerkenswert ist seine Wachheit in den Proben bis hin ins Vormachen von Details: Man betrachte ihn tanzend an der Spitze seiner Chorsolisten in der La Traviata-Produktion von 1976. Mit der für Die Liebe zu den drei Orangen herausgestreckten Zunge, die sich beim Darsteller Cullen Maiden zweimal wiederfindet, gelangen Clemens Kohl charakteristische optische Pointen.
Felsenstein kämpfte seinerzeit gegen inhaltlosen Schöngesang und kulinarischen Operngenuss und für eine Bühnenerfahrung, die Musik und Theater gleichermaßen ernst nahm und damit die Gattung Oper auch dem normalen Bürger (Genzen) zugänglich machte. Inzwischen stirbt das traditionelle Opernpublikum aus und mit ihm auch das Bildungsbürgertum, dem die Exponenten des Regietheaters seit Jahrzehnten in ihren Inszenierungen auf den Leib rücken wollen. Für die Gegenwart stellt sich Felsensteins Aufgabe wahrscheinlich von Neuem: Wie gewinnt man ein junges, von Film, Fernsehen und Computer geprägtes Publikum für das musikalische Theatererlebnis?
Sicher nicht durch fortwährende Dekonstruktion von ohnehin immer weniger bekannten Texten, wahrscheinlich auch weniger durch das multimediale Spektakel, das auch andernorts zu haben ist, sondern am ehesten durch die leibhaftige Intensität, mit der Menschen singend und spielend das Geschehen auf der Bühne glaubhaft machen.
Andreas Hauff