Janácek, Leos

Werke für Violoncello und Klavier

Partitur und Stimme

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Bärenreiter, Prag 2008
erschienen in: das Orchester 06/2009 , Seite 66

Kompositorische Urtexte in neuen Ausgaben zugänglich zu machen, ist eine Aufgabe, die neben Fachkompetenz psychologisches Fingerspitzengefühl erfordert. Die handschriftlichen Hinterlassenschaften der Komponisten kommen den Editoren durchaus nicht immer entgegen: Neben Partituren, die spürbar vom Vollendungswillen beseelt sind, finden sich solche, die vorläufig anmuten, fragmentarisch, Durchgangsstadien festhalten wollend. Zur letzteren Spezies gehören die Partituren Leos Janáceks, allein die Entschlüsselung seiner Handschrift bereitet ähnliche Probleme wie im Falle Beethovens. Um so höher zu loben ist das 1978 begonnene Projekt des Bärenreiter-Verlags, die Musik Janáceks in quellenkritischen, von nachträglichen Verfälschungen bereinigten Texten vorzulegen.
1988 erschien im Rahmen dieser Janácek-Edition erstmals ein Band mit Werken für Violoncello und Klavier. Hieraus übernimmt die vorliegende Publikation die dreisätzige Version des 1910 entstandenen “Märchens” (Pohádka) sowie ein einzelnes Presto, das aufgrund von Indizien als Werk für Cello und Klavier identifiziert wurde, da das undatierte Autograf keine Instrumentangabe enthält: Sowohl der Tonumfang der Solostimme als auch die Tatsache, dass das Presto auf demselben, ansonsten für Janác?ek eher untypischen Notenpapier wie Pohádka notiert ist, legen nahe, dass ursprünglich ein Zusammenhang zwischen beiden Werken bestand.
Hierüber informiert das Vorwort ebenso wie über den Grund, überhaupt im Zusammenhang mit Janác?eks Cellowerken editorisch nachzulegen: Neben der dreisätzigen Version existiert eine weitere, viersätzige, in handschriftlicher Kopie erhaltene Fassung von Pohádka, die hier erstmals publiziert wird. Sie entstand um 1912 und enthält die – teils stark überarbeiteten – drei Sätze der älteren Version sowie ein Adagio mit neuem Material, das in einen Allegroabschnitt mündet, in dem Reminiszenzen an die früheren Sätze anklingen. Überraschenderweise endet der Satz in Des-Dur, der Dominante des enharmonisch changierenden Paares Ges-Dur/fis-Moll, das dem gesamten Werk zu Grunde liegt.
Die verwickelte Entstehungsgeschichte des Märchens spiegelt sich wider in der Vielzahl der Quellen, die für diese Edition verwendet wurden: Neben dem Autograf der dreisätzigen Version waren dies die autorisierte Abschrift des viersätzigen Werks, zwei weitere Abschriften sowie der Erstdruck aus dem Jahr 1924. Ein kurioser Übersetzungslapsus im deutschen Vorwort der Neuausgabe – hier ist vom „indiskutablen Wert“ der viersätzigen Fassung die Rede – sei nur zitiert, um zu unterstreichen, dass derselbe Gedanke in zurechtgebogener Formulierung guten Anlass bot, Janáceks Cellowerke in einer neuen, fundierten Edition herauszubringen: Die bis dato unbekannte Alternativfassung von Pohádka ist ein Werk von unbestreitbarem Wert!
Gerhard Anders