Bach, Johann Sebastian / Eugène Ysaÿe

Werke für Violine solo Vol. 2

Antje Weithaas (Violine)

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Avi-Music 8553346
erschienen in: das Orchester 11/2016 , Seite 69

Der Vergleich der Violinsolosonaten von Johann Sebastian Bach und Eugène Ysaÿe ist spannend: Das Instrument, die Violine, hat sich im Wesentlichen nicht verändert. Freilich wurde ihr Klangvolumen vergrößert, der Bogen flacher gebaut, doch noch immer muss der Komponist mit dem Tonmaterial der vier Saiten auskommen. Antje Weithaas wählt für ihre zweite CD zum Thema Bach – Ysaÿe die a-Moll-­Sonate und E-Dur-Partita von Bach sowie die 3. Sonate in d-Moll und 5. Sonate in G-Dur von Ysaÿe, also jeweils eine Komposition in Moll und Dur.
Musikgeschichte kennt keinen Fortschritt, zeigt diese CD: Bachs Musik spielt letztlich die von Ysaÿe an die Wand. Sie ist viel differenzierter, vielfältiger, besser im Detail gearbeitet. Sicherlich ist Ysaÿe kein so bedeutender Komponist wie Bach. Aber seine Musik fasziniert durchaus. Sie fordert von der Violine, ein Orchester zu sein mit all seiner dynamischen Spannweite und den vielen Klangfarben. Dabei wird die Geige überfordert, was bei längerem Hören auffällt, auch wenn sie so klangschön und perfekt gespielt wird wie von Antje Weithaas.
Weithaas ist eine in die Tiefe gehende und höchst wandlungsfähige Gestalterin. Wenn sie Bachs a-Moll-Sonate spielt, geht es ihr um das Detail: Fast jeder einzelne Ton wird individuell artikuliert und klar von den anderen Tönen abgesetzt. Dennoch gelingt es ihr, jedem Satz auch insgesamt einen eigenen Charakter zu verleihen: Das Grave wirkt klagend und zerrissen, die Fuge wie ein Tanz, das Andante wie eine Arie und das Schluss-Allegro ist voller virtuoser Leichtigkeit. Musikalische Rhetorik und barocke Affektdarstellung werden von ihr so miteinander verbunden, dass beides im Gleichgewicht steht: das Kleine und das Große.
Die Musik von Ysaÿe orientiert sich an großen Spannungsbögen. Sie ist, so scheint es am Anfang der d-Moll-Sonate, eine Entladung von Energie. Doch dann folgt eine klein­teilige Melodie, sehr verhalten, sehr introvertiert, die durchaus Verbindungen zu Bach hat. Weithaas lässt uns die ungeheure Spannung, die in diesem Anfang liegt, miterleben. Ihr gelingt dies überzeugend, indem sie ihrer Violine ein größtmögliches Spektrum zwischen piano und forte abverlangt, ohne sie beim forte zu überfordern. Auch in der Musik Ysaÿes gelingt es ihr, das Detail und das Großflächige gleichermaßen bewusst zu machen. Dadurch gewinnt die Musik von Ysaÿe an Tiefe und wirkt hier weit von virtuoser Oberflächlichkeit entfernt. Aber freilich wird bei den Spannungsbögen auch die Begrenztheit der Violine gegenüber einem Orchester, dessen Aufgaben ihr aufgehalst werden, deutlich.
Sicherlich überrascht nicht, dass auf dieser CD die Musik von Bach letztlich besser abschneidet. Vielmehr ist der eigentliche Hörgewinn, dass man Ysaÿes Musik hier differenzierter und vielschichtiger kennen lernen kann – und das ist das große Verdienst der exemplarischen Interpretationen von Antje Weithaas.
Franzpeter Messmer