Riehm, Rolf

Wer sind diese Kinder/Hamamuth – Stadt der Engel

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Wergo WER 6755 2
erschienen in: das Orchester 01/2014 , Seite 81

Diese bei Wergo erschienene CD bietet einen hervorragenden Einblick in die Möglichkeiten zeitgenössischer Kompositionstechniken. Die beiden eingespielten Werke von Rolf Riehm (*1937) beschäftigen sich mit der Thematik von Zerstörung (Krieg) und Erhaltung (Werte).
Dies wird in Wer sind diese Kinder für großes Orchester in drei Gruppen, Klavier und elektronische Zuspielungen schon an der Textwahl deutlich: „Wer sind diese Kinder? Das sind wir, die leiden und leiden machen.“ In die düster-resignative Grundstimmung der Komposition werden im ersten Teil noch unverständliche Worte und Wortfetzen eingespielt, auch in russisch und arabisch, die nach und nach verständlicher werden, und
zu einem fast melodramatischen Ende hin hören wir Auszüge aus Hesiods Theogonie. In der komplexen Musik sind vor allem zwei Kräfte wirksam, die „mit aller Kraft das Zerfallende zusammenhalten wollen“ (Riehm). Klangverfremdungen, Flageolets und Flattertöne sowie turbulente Orchestertriller stehen einem immer wiederkehrenden g-Moll-Sextakkord gegenüber. Dieser versucht Halt zu geben, wie auch einzelne Töne, u.a. des Schibam-Gesanges. Das resignative Intermezzo op. 118,6 von Johannes Brahms klingt immer wieder an, wie durch einen Filter werden die Klänge zersplittert und neu geformt. Das heißt bei Riehm dann „Brahms-Luke“ oder „Brahms-Grundierung“. Einzeltöne oder statische Akkorde werden von wilden Klavierclustern und fragmentarischen Einwürfen des Orchesters unterbrochen. Das Ganze hat etwas Aufwühlendes an sich und führt in die Auseinandersetzung mit der schon erwähnte Grundthematik.
Das SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg spielt unter Leitung von Beat Furrer mit gewohnter Präsenz diesen Live-Mitschnitt der Uraufführung vom Oktober 2009 bei den Donaueschinger Musiktagen. Es ist dem Orchester anzumerken, dass es mit der Riehm’schen Klangwelt vertraut ist. Die Aufnahmetechnik hat die drei Orchestergruppen gut räumlich erfasst und die elektronischen Zuspielungen geschickt verwoben.
Auch der Pianist Nicolas Hodges, dessen Solopart im Verlauf des Werks immer bedeutungsvoller wird – zum melodramatischen Ende hin spielt er fast nur noch alleine mit dem Sprecher –, ist ein souveräner Sachwalter des zum Teil sehr komplexen Klaviersatzes. Er spielt vorweg das 28:30-minütige Solostück Hamamuth – Stadt der Engel, aufgenommen im Mai 2012 im Kammermusiksaal des Deutschlandfunks in Köln.
Eruptive Clusterballungen und wütende Tremoli stehen neben filigran gearbeiteten Passagen. Im letzten Abschnitt erscheint, wie schon bei Wer sind diese Kinder, der Schibam-Gesang, welcher sich nach und nach in lange gehaltene Einzeltöne verliert, wie eine Erinnerung an die gleichnamige jemenitische Stadt aus Lehm. Hodges gestaltet dieses anspruchsvolle Werk mit großem Einsatz und einem ausgeprägten Sinn für die verschachtelten Riehm’schen Klanggesten, bis hin zu einer Stille, deren innere Spannung an theatralischer Wirkung kaum zu überbieten ist.
Christoph J. Keller