Thoma, Xaver Paul

Wendland Sinfonietta

op. 177 für Ensemble, Partitur/Stimmen

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Hubert Hoche-Musikverlag, Helmstadt 2014
erschienen in: das Orchester 06/2015 , Seite 77

Xaver Paul Thoma, geboren 1953, war als Bratschist in verschiedenen deutschen Orchestern tätig und rühmt sich, keine explizite kompositorische Ausbildung erhalten zu haben. Dafür besuchte er aber während seines Instrumentalstudiums in Karlsruhe viele musiktheoretische Seminare, u.a. bei Werner Velte, und kam beispielsweise mit dem jungen Wolfgang Rihm in Berührung. Von der Komponistengeneration, der er angehört, kann man seine Ästhetik wohl durchaus in die Kategorie der in den 1970er Jahren aufkommenden Bezeichnung „Neue Einfachheit“ einordnen. Auf seiner Internetseite findet man ein reichhaltiges Werkverzeichnis, vor allem Kammer- und Ensemblemusik, darunter auch einige Orchesterwerke
und Solokonzerte.
Thoma interessiert es vorrangig, Kinder und Jugendliche an zeitgenössische Musik  heranzuführen, und sein Œuvre ist geprägt von Kompositionen in den unterschiedlichsten, teilweise ausgefallenen Instrumentalkombinationen (z.B. Viola und Marimba). Die Wendland Sinfonietta ist wohl ein Auftragswerk der Musikschule in Lüchow-Dannenberg, wo Thoma von 1980 bis 1989 lebte. Die Lehrkräfte – wohlgemerkt nicht Schüler – besorgten 2014 die Uraufführung. Die Komposition gliedert sich in vier Einzelsätze, deren Titel sich auf Regionen des Wendlands beziehen dürften.
Die Besetzung ist sehr individuell wohl auf die Möglichkeiten und Bedürfnisse der Musikschule zugeschnitten: Drei Bläser (Flöte, Saxofon und Posaune) stehen einer reichhaltigen Schlagzeuggruppierung gegenüber, gepaart mit drei Zupfinstrumenten (Gitarre, Mandoline, Keltische Harfe) und vierhändig zu spielendem Klavier. Eine als Vocalise nicht näher bezeichnete Singstimme und klassisches Streichorchester (ob solistisch oder chorisch besetzt, ist nicht zu erkennen) runden die ausgefallene Kombination ab. Sind die Ecksätze wohl eher als Ensemblestücke im Ganzen gedacht, so treten in den Mittelsätzen einzelne Instrumente oder Gruppen auch solistisch hervor. Im 2. Satz „Schwendels Berg“ sind das besonders die Zupfinstrumente, im 3. Satz „Im Gartower Forst“ dominiert die Vocalise, die aber auch im 4. Satz, wenngleich nicht mehr so stark im Vordergrund eingesetzt ist.
Die Partitur erweist sich als recht komplex und für die einzelnen Spieler durchaus anspruchsvoll, ist also nicht am Musikschulniveau orientiert. Der musikalische Satz ist weniger auf Homogenität denn auf Polyfonie ausgerichtet. Es gibt viele kleingliedrige simultan auftretende Figurationen, gepaart mit an die Zweite Wiener Schule gemahnenden melodisch ausgreifenden expressiven Gesten. Dadurch entsteht ein vorwiegend disparater Höreindruck, zumal die Schreibweise konsequent atonal ist, Wiederholungen weitgehend vermieden werden und eine assoziative, auf musikalische Einzelereignisse reagierende Prozessualität vorherrscht, in der sich zurechtzufinden für den einzelnen Spieler wie den Hörer nicht mühelos ist. Eine auch für professionelle Musiker nicht ganz leicht zu bewältigende, klanglich spröde Partitur, die auf jeden Fall einen sorgfältig agierenden Dirigenten benötigt.
Kay Westermann