Lesle, Lutz
Weltklasse!
Die deutschen Rundfunkchöre starten in die neue Saison
Angst geht um unter den deutschen Rundfunkchören. Nach einigem Zittern beim NDR Chor schlug jetzt beim SWR Vokalensemble die Bombe ein: Mit dem Segen des Verwaltungs- und Rundfunkrats soll dieser einzigartige Solistenchor, der das letzte Halbjahrhundert europäischer Chormusikgeschichte nicht nur mitschrieb, sondern dank seiner Anziehungskraft für Komponisten zum guten Teil hervorbrachte, um ein Drittel dezimiert werden (von 36 auf 24 Stellen). Zur Begründung schlug SWR-Intendant Peter Voß dem nachbohrenden Musikredakteur der Stuttgarter Zeitung vor: Gehen wir doch mal gemeinsam ins Fußballstadion und erzählen 50000 Fans, dass sie Gebühren zahlen dürfen, aber dafür keinen großen Fußball mehr bekommen, sondern ein Karlheinz-Stockhausen-Konzert. Und dann schauen wir mal, ob wir beide da heil wieder herauskommen. Als der Interviewer die Gretchenfrage wagte, wann der Intendant denn mal ein Konzert des Ensembles besuchen werde, bekam er die ungenierte Antwort: Wenn wir unsere Entscheidung getroffen haben.
Naiv zu glauben, Erfolgsgeschichte und Uraufführungsliste eines Ensembles schützten es vor der Torheit spargenötigter Intendanten und Bereichsleiter. Wenn Zahlen zählen, hat Minderheitenkultur stets das Nachsehen. Gegenüber den fast zwei Millionen Euro Ersparnis, die sich aus der beschlossenen Zusammenlegung der Rundfunkorchester Kaiserslautern und Saarbrücken in der laufenden Gebührenperiode ergeben soll, rechnen die Rotstiftstrategen beim nur schrittweise rückführbaren SWR Vokalensemble mit bloßen 670000 Euro (FAZ vom 16. Juni 2005). Der ästhetische Kursverlust, den der vergleichsweise geringe Spareffekt auslösen wird, wird indes hinreichen, um zu Grabe zu befördern, was begnadete Chefdirigenten wie Hermann Joseph Dahmen, Marinus Voorberg, Klaus-Martin Ziegler, Rupert Huber und Marcus Creed binnen Jahrzehnten aufgebaut haben, als sie den Chor zu dem machten, was er heute ist: begehrtester Partner lebender Komponisten und entsprechend engagierter Orchester, Chöre und Veranstalter.
Ist die Schamschwelle erst einmal überschritten, werden sich die Spargremien auch nicht von ansehnlichen Jubiläumszahlen beeindrucken lassen. Die meisten Radiochöre der Bundesrepublik bewegen sich, ihrer Entstehungszeit nach dem Zweiten Weltkrieg entsprechend, um die Jubiläumsmarke sechzig. Betroffene und (vorerst) Verschonte erhoffen sich von ihr eine zumindest aufschiebende Wirkung. Sowohl das SWR Vokalensemble als auch der Chor des Bayerischen Rundfunks sehen mit einem unüberhörbaren Nun erst recht ihrem 60. Geburtstag entgegen. Die besorgten Leipziger fanden acht Jahre nach der Fünfzigjahrfeier ihres MDR Rundfunkchors sogar heraus, dessen Geburt habe sich bereits 1924 ereignet, womit sich sein Jahresgewicht auf satte achtzig erhöhen würde ein Jubiläum, das der Rundfunkchor Berlin bereits im Mai dieses Jahres glorreich beging, geschmückt mit einem neuen, frisch-frechen Logo.
Rundfunkchor Berlin und RIAS Kammerchor, dessen Sechzigster erst 2008 ansteht, freuen sich ihrer Schutz bietenden Zugehörigkeit zur roc berlin (Berliner Rundfunk Orchester und Chöre GmbH ), der sie in ihren Saisonbroschüren 2005/06 dankbar gedenken. Deren Gesellschafter Deutschlandradio, Bundesrepublik Deutschland, Land Berlin und Rundfunk Berlin-Brandenburg, heißt es dort, garantierten die notwendige strukturelle Sicherheit, mithin die Kontinuität der künstlerischen Leistung. Von solcher Protektion kann das SWR Vokalensemble, vielen Hörern noch als Südfunkchor angenehm im Ohr, nach dem Reformbeschluss der Sendeanstalt vom Juni 2005 nicht einmal mehr träumen.
SWR Vokalensemble: Sturz vom Himalaja?
Da halfen auch keine Einsprüche empörter Journalisten. FAZ-Redakteur Wolfgang Sandner war den schwäbischen Nachtigallen im Februar eigens nach Paris gefolgt, wo sie unter Heinz Holliger in der Cité de la musique ein Konzert mit Luigi Nonos A-cappella-Chor Sarà dolce tacere, Meilenstein der avantgardistischen Musik der Sechzigerjahre, und anderen Stücken gaben, die zum Himalaja der Vokalwerke des zwanzigsten Jahrhunderts gehören. Jeder, der Gelegenheit hatte, das Konzert zu hören, wird es wohl als Sternstunde der Vokalmusik in Erinnerung behalten; und als eine unübertreffliche Demonstration künstlerischer Leistung aus dem für das Ausland immer noch so apostrophierten Land der Musik, schwärmte Sandner, um gleich den Finger auf die Wunde zu legen: Etatkürzungen, Einstellungsstopp und das Gerede davon, dass man einen solchen Chor nicht brauche, sei ein Tod auf Raten. Wie kann das Niveau gehalten werden, wenn sich das Ensemble nicht verjüngt, wie lässt sich eine schleichend depressive Stimmung im Ensemble vermeiden, wenn sich bei Verantwortlichen im Rundfunk die aberwitzige Meinung festsetzt, das Repertoire könne auch, wenn es überhaupt nötig sein sollte, von guten Laienchören oder semiprofessionellen Ensembles interpretiert werden? In ganz Amerika gebe es keinen vergleichbaren Chor. Im Musikland Italien auch nicht. In Schweden nicht mehr.
Auf entsprechende Vorhaltungen der Stuttgarter Zeitung wiegelte SWR-Intendant Peter Voß ab: Das Vorhaben ist relativ moderat: Die Streichung von zwölf Planstellen hier und einigen mehr an anderer Stelle das ist nicht der Untergang des Abendlandes. Laut Pressemitteilung des Senders soll die Maßnahme mittels flexibler Vorruhestandsregelungen langfristig einen Umbau des Ensembles in personeller wie auch künstlerischer Hinsicht erzwingen. Ein ebenso kahlschlägerischer wie ahnungsloser Satz, den die FAZ ihren Lesern am 16. Juni folgendermaßen verdeutschte: Das traditionsreiche SWR Vokalensemble soll endlich die Flagge senken und austrocknen zu einem austauschbaren Telefonchor.
Ahnungslosigkeit an der Spitze des eigenen Funkhauses: Das ist das Schlimmste, was einem Ensemble passieren kann. Dagegen vermag auch eine Aufklärungskampagne, wie sie der Förderverein des SWR Vokalensembles unter Anwendung der sokratischen Methode unter die Leute brachte, wenig auszurichten. Obwohl die Argumentation so schön stach. Reicht es denn nicht aus, wenn man sich ab und zu am Wochenende trifft, um Werke zu erarbeiten, die jeder für sich zu Hause schon einstudiert hat?, fragte da der gesunde Menschenverstand, um belehrt zu werden: Auf die tägliche Probenarbeit kommt es an! Ein 36-fach geteilter Chorsatz, wo jeder Chorist eine eigene Stimme zu singen habe, sei zwischen Tür und Angel musikalisch nicht ins Reine zu bringen. Im Übrigen müsse ein Rundfunkchor alle zwei bis drei Wochen Programme völlig unterschiedlicher Epochen und Stilsphären erarbeiten. Ein semiprofessioneller, von Fall zu Fall zusammentelefonierter Chor sei den horrenden Anforderungen vieler zeitgenössischer Partituren einfach nicht gewachsen.
Es ist nun einmal so: Wer nicht selber im Chor gestanden und versucht hat, seine Stimme in einer beständig modulierenden Motette von Max Reger oder in Schönbergs wolkigem Chorsatz Friede auf Erden zu halten (ein Vabanquespiel zwischen Hinhören und Weghören!), der ahnt gar nicht, wovon hier die Rede ist. Was man sparsam rechnenden Rundfunkverwaltern wohl unterstellen darf.
Umso beeindruckender liest sich die aktuelle Programmbroschüre des SWR Vokalensembles. Chefdirigent Marcus Creed, seit 2003 im Amt und bis Ende 2008 unter Vertrag, wird selbst 13 von 30 Konzerten leiten und dabei sieben ganz unterschiedliche Programme gestalten, darunter Uraufführungen junger österreichischer Tonsetzer bei den Donaueschinger Musiktagen im Oktober 2005 und der Schweizer Komponisten Hans Ulrich Lehmann und Heinz Holliger beim Eclat Festival Stuttgart im Februar 2006. Insgesamt erhöht das SWR Vokalensemble in der gegenwärtigen Saison die Bilanz seiner Uraufführungen, die sich auf mehr als 300 Werke beläuft, um weitere zehn.
Die Erfahrungen des Ensembles mit zeitgenössischen Utopien des Chorklangs kommen immer auch dem klassischen Repertoire zugute, das in der anbrechenden Saison von Heinrich Schütz bis zu Anton Bruckner reicht. Die Schwetzinger Festspiele beglückt das Vokalensemble diesmal zusammen mit dem Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR mit Mozarts c-Moll-Messe und einer Mendelssohn-Kantate. In den Abo-Reihen und bei Gastspielen des Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR und des SWR Sinfonieorchesters Baden-Baden und Freiburg ist das Vokalensemble ein geschätzter Gast. Im Unterschied zu anderen ARD-Anstalten besteht aber keine Kooperationspflicht.
Konzertreisen führen in die Berliner Philharmonie, ins Konzerthaus Dortmund, zum Pariser Festival dautomne und zu den Ittiger Pfingstfestspielen in der Schweiz. Eine besondere Herausforderung stellen die Beiträge des Vokalensembles zu den Weltmusiktagen der IGNM im Sommer 2006 in Stuttgart dar: Uraufführungen des in Paris lebenden Griechen George Aperghis und des Österreichers Bernd Richard Deutsch. Gleich in mehreren Konzerten ehrt das Ensemble Clytus Gottwald, den mittlerweile 80-jährigen Gründungsleiter der Stuttgarter Schola Cantorum und ehemaligen Redakteur für Neue Musik am SDR: mit einer Blütenlese seiner Chor-Arrangements, die er Liedern und Instrumentalwerken von Wagner, Debussy, Ravel, Alban Berg und Olivier Messiaen angedeihen ließ.
Trotz der angespannten Finanzlage möchte man gern weiterhin Kompositionsaufträge vergeben. Vor allem an junge Leute, denen die Möglichkeit, schon während des Kompositionsprozesses mit einem Profi-Chor probieren zu können, von besonderem Nutzen sein dürfte. Im Übrigen sucht das Chormanagement den Spagat zwischen Regionalität und Internationalität, Konzertreisen und vokalem Heimspiel (wozu die 2004 von Marcus Creed etablierte Konzertreihe in einer Stuttgarter Jugendstilkirche gehört). Letzteres hat auch eine pädagogische Seite: Saisonbegleitende Angebote für Schul- und Jugendchöre wie auch für Schulklassen lassen Kinder erleben, dass Hör-Ausflüge und Mitsing-Trips in die Welt der Chormusik ebenso spannend sein können wie Fußballgucken und Internetsurfen.
Chor des Bayerischen Rundfunks: klar auf Jubiläumskurs
Mit seiner 44 Kehlen zählenden Stammbesatzung, neuem Steuermann und vollen Segeln zieht der Chor des Bayerischen Rundfunks seinem 60. Geburtstag entgegen. 1946 gegründet, ist er der älteste Klangkörper des Hauses. Seinen künstlerischen Aufschwung nahm er parallel zur Entwicklungsgeschichte des Symphonieorchesters, dessen Chefdirigenten ihn mitformten (Eugen Jochum, Rafael Kubelik, Sir Colin Davis, Lorin Maazel, seit 2003 Mariss Jansons). Von 1990 bis Saisonende 2004/05 führte ihn Michael Gläser auf den Zenit des Chorgesangs. Soeben trat der 27 Jahre junge niederländische Chordirigent Peter Dijkstra, der bei allen Koryphäen europäischer Chorleitungskunst studiert hat, dessen verpflichtendes Erbe an.
Seit 1998 präsentiert sich der Chor des Bayerischen Rundfunks in einer eigenen Abonnementreihe im Prinzregententheater. Zur Jubiläumssaison hat das Chormanagement eine fünfteilige Reihe aufgelegt, die am 15. Oktober mit einem Willkommenskonzert für den neuen künstlerischen Leiter beginnt: Welkom aan Peter Dijkstra! Ende April 2006 steigt ein rauschendes Festkonzert 60 Jahre und kein bisschen leise
An den Programmen lässt sich die stilistische Weite und der europäische Horizont des Repertoires erkennen, das dem neuen Chorleiter am Herzen liegt. Sein Einstandskonzert könnte nicht triftiger beginnen als mit Brittens Hymn to St. Cecilia. Nach Vaughan Williams und Frank Martin schließt es mit einer Chorkomposition des Niederländers Rudolf Escher. Händel is back! behauptet das zweite Abo-Konzert unter Howard Arman, dem Chefdirigenten des MDR Rundfunkchors. Im Februar gibt es Haydns Missa in angustiis (Nelson-Messe) und Mozarts Kantate Davidde penitente zu hören, bevor sich zum Jubiläum Ende April vier ruhmreiche Chordirigenten das Podium streitig machen: außer dem vormaligen und dem frisch gekürten Chorleiter des BR noch WDR-Chordirektor Rupert Huber (als Dirigent in eigener Sache) und der Schwede Gustav Sjökvist, der unter anderem ein Chorwerk eines Landsmanns, des Opernkomponisten Hans Gefors präsentieren wird.
Die aktuelle Konzertvorschau des Bayerischen Rundfunks lässt Sehnsucht nach einem Sabbatjahr in München aufkommen. Wenn die fünf eigenen Abo-Konzerte auch die Visitenkarte des Chors darstellen, so spiegeln sie doch nur einen Ausschnitt seiner Arbeit, die natürlich auch den chorsinfonischen Aufführungen des Symphonieorchesters gilt. Hinzu kommen chorische Novitäten der Konzert- und Sendereihe musica viva, Gesangsbeiträge zur Reihe paradisi gloria des Münchner Rundfunkorchesters in der St. Michaelskirche, die Nachtmusiken der Moderne in der Pinakothek. Neuerdings rückt die historische Aufführungspraxis stärker ins Blickfeld der Chorsängerinnen und -sänger, die sich unter Dirigenten wie Thomas Hengelbrock, Nikolaus Harnoncourt oder Ton Koopman sogar an Solopartien wagen.
Mehrere Initiativen dienen der Nachwuchsförderung. Ein Chordirigentenforum verschafft Studierenden und Berufsanfängern Erfahrungen in der Probenarbeit mit einem Profi-Chor. Innerhalb der sonntäglichen Jugendkonzerte Klasse Klassik des Münchner Rundfunkorchesters in der Philharmonie am Gasteig proben und singen Schulchöre gemeinsam mit dem Chor des BR.
MDR Rundfunkchor: Nachtgesänge in der Vorstadt
Der große Zauber des Musizierens mit dem MDR Rundfunkchor besteht für mich darin, den latenten Widerspruch aufzuheben, der zwischen dem persönlich formulierten Textinhalt einer Vokalkomposition einerseits und der gemeinschaftlichen Disziplin der großen Besetzung andererseits existiert. Es ist undenkbar, dass 74 Menschen gleichzeitig identische Emotionen haben aber es passiert, und wenn es passiert, spürt es nicht nur jeder Sänger, sondern auch jeder Zuhörer. Wer dieses Phänomen einmal erlebt hat, versteht die Stärke der Chormusik, bekennt Professor Howard Arman, der angel-sächsische Maestro des MDR Rundfunkchors. Ein arbeitsbesessener, bedingungslos der alten wie der neuen Musik verschworener Chorerzieher britischer Herkunft und englischer Schule, der gern Programme komponiert: Werkfolgen, die sich zu einem Thema oder einer übergeordneten Idee verbinden, einen bestimmten Sinnhorizont öffnen. Beispielhaft abzulesen an der von ihm kreierten Reihe Nachtgesang um 22 Uhr in der Peterskirche nahe der Kneipenzeile in der Leipziger Südvorstadt ein in der Saison 2004/05 begonnenes, eintrittsfreies, Konzertkonventionen durchbrechendes Experiment, das gerade bei jungen Leuten voll ankommt.
Magie und Mystik verhieß die erste Chornacht im Oktober 2004. Sie begann mit einem Arman gewidmeten Chor Endless Light des Amerikaners Laurence Traiger. Am Ende stand ein A-cappella-Werk des Japaners Toru Takemitsu auf die fünf Elemente der tibetischen Philosophie und Heilkunst. Kurz vor Weihnachten sang der MDR Rundfunkchor dort das große Abend- und Morgenlob von Rachmaninow, dessen CD-Einspielung dem Chor 2002 den Echo-Klassik-Preis eintrug. Dazu ließ Arman einen Bilderzyklus des Malers Jörg M. Dialer hängen, der auf die fünfzehn Sätze der Vesper Bezug nimmt. Ein Jazzabend mit der Wiener Band Die Erben beschloss die Nachtgesangsreihe Ende Juni 2005 triumphal. Am 9. Dezember findet sie ihre Fortsetzung mit einer Abendmusik des niederländischen Komponisten Daan Manneke und Chorsätzen der Romantik. Der fünfte Nachtgesang am 8. Februar 2006 bleibt dem Konzert für Chor von Alfred Schnittke vorbehalten. Unter dem Motto Mars und Venus sammelt das letzte Nachtkonzert der Saison am 12. Mai Chorliteratur zum Thema Krieg und Liebe. (Im Konzertführer sind die Programme den falschen Terminen zugeordnet.)
Die Nachtgesänge in der Vorstadt sind notabene eine Zusatzleistung des Chors und seines Leiters außerhalb ihres Pflichtpensums, das die Erarbeitung der chorsinfonischen Konzertprogramme und konzertanten Opernaufführungen mit dem MDR Sinfonieorchester unter Chefdirigent Fabio Luisi einschließt. Herausragend diesmal die Uraufführungen eines Requiems von Jean-Luc Darbellay (20. November) und der Oper Der Tod und das Mädchen von Alfons Karl Zwicker (21. März): Werke zweier in Deutschland kaum bekannter Schweizer Komponisten des Jahrgangs 1946 bzw. 1952.
Gemeinsam mit dem MDR Sinfonieorchester hat sich der MDR-Rundfunkchor zum Ziel gesetzt, allgemein bildenden Schulen Anregungen zur Vertiefung und Ergänzung ihres Musikunterrichts zu geben. Unter dem Motto Klassik ist Klasse übernehmen Chor und Orchester des Senders Patenschaften für Schulchöre und Schulorchester. Ensemblemitglieder betreuen in Zusammenarbeit mit Musiklehrern über längere Zeit eine Schulklasse: entweder direkt auf ein Werk oder ein Programm bezogen, das zur Aufführung ansteht (wobei die Kinder auch an den Proben teilnehmen), oder im Rahmen einer Werkstatt zu altersgerechten Themen wie Tiere im Dschungel, Eine musikalische Weltreise, Zukunftsmusik oder Frauen in der Musik. Zudem gibt es Schülerkonzerte zum Mitsingen.
Rundfunkchor Berlin: Konzerte zum Mitsingen
Mitsingkonzerte finden auch an der Spree überwältigenden Zuspruch. 1350 Kehlen stimmten im April 2005 in der Philharmonie mit den Rundfunkchor Berlin unter Simon Halsey in Orffs Carmina burana ein, nachdem im Jahr zuvor schon 630 sangesfreudige Menschen zu Mozarts Requiem ins Haus des Rundfunks geströmt waren. Das nächste Mitsingkonzert, bei dem die Chorpartien ganz im Zentrum des Werks stehen, steigt am 2. April 2006. Der Tag wird sich wieder in drei Phasen gliedern: ab 10 Uhr probt Simon Halsey mit den singenden Gästen, um 13 Uhr kommen Rundfunkchor und Orchester hinzu. Um 16 Uhr beginnt die gemeinsame Aufführung.
Der Rundfunkchor Berlin, 1925 gegründet und derzeit 65 Mitglieder zählend, schlägt noch andere originelle Wege der Musikvermittlung ein. Wie Howard Arman und Marcus Creed den Elite-Chorschulen der Insel entwachsen, fühlt sich Simon Halsey der in England hoch entwickelten Kunst der Besucheranimation und der musikalisch-tänzerischen Jugendarbeit verbunden. Unter dem Titel Broadening the Scope of Choral Music setzte er ein über mehrere Spielzeiten angelegtes Projekt in Gang, das neue Aufführungsformen im interdisziplinären Dialog mit wechselnden Künsten wagt. Mit der Liturgie Der versiegelte Engel, einem Drama für Chor, Tänzer und Flöte von Rodion Shchedrin nach einer Novelle des russischen Dichters Nikolai Leskow, begann im Mai 2005 in der Parochialkirche Berlin-Mitte der Versuch, Chorkonzerte zu inszenieren. Ende Januar 2006 wird diese Neuland gewinnende Reihe innerhalb des Berliner Festivals Ultraschall fortgeführt: mit der Uraufführung der Choroper Angst für Chor, Chorsoli, Instrumentalensemble und filmische Projektion des in Berlin lebenden Komponisten Christian Jost. Hier wird der Chor das singende Gedankenspiel verkörpern.
Trotz dieser Innovationsspritzen liegt der Schwerpunkt der Chorarbeit in der Pflege lang gewachsener Partnerschaften, in erster Linie mit dem London Philharmonic Orchestra sowie den Berliner Philharmonikern, dem Deutschen Symphonie-Orchester Berlin und dem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin, also den Schwester-Ensembles innerhalb der roc berlin. Unter den 53 Konzerten, die der Chor für die neue Spielzeit ankündigt, beansprucht die Uraufführung des Te Deum von Siegfried Matthus in der Dresdner Frauenkirche besondere Aufmerksamkeit (11./12. November).
RIAS Kammerchor: Klagegesang und Mitmachtheater
Mit dem Slogan 6 Konzerte hören, 5 Konzerte kaufen wirbt der RIAS Kammerchor für seine Abonnementkonzerte 2005/06 im Kammermusiksaal der Berliner Philharmonie eine hoch spannende Mischung unterschiedlichster Musikarten: von Klagegesängen des späten Mittelalters und des Trecento bis zu Vokalwerken zeitgenössischer Komponisten aus Frankreich, England und Skandinavien.
Die Hälfte dieser Abo-Konzerte leitet Chefdirigent Daniel Reuss, der gleich im ersten, theosophisch inspirierten Konzert am 23. Oktober in einem kühnen Bogen 900 Jahre Musikgeschichte überspannt. Eckpfeiler seines erlesenen Programms sind der Planctus David super Saul et Jonatha des französischen Philosophen, Poeten und Musikers Peter Abelard (1079-1142) und die Cinq rechants von Olivier Messiaen, komponiert 1949. Die beiden anderen von Reuss geleiteten Abo-Konzerte konzentrieren sich jeweils auf ein Werk. Das neue Jahr begrüßen RIAS Kammerchor und Akademie für Alte Musik Berlin mit Händels Oratorium Salomon. Am 22. Februar laden Kammerchor und Scharoun Ensemble zum Zaubertrank Le vin herbé von Frank Martin. Vorher, in der Adventszeit, dirigiert Hans Christoph Rademann Bach-Kantaten und eine Reger-Motette. Reinbert de Leeuw wagt am 20. Januar ein Programm mit Chormusik des 20./21. Jahrhunderts, darunter eine Uraufführung von Harrison Birtwistle. Der niederländische Newcomer Peter Dijkstra schickt den RIAS Kammerchor am 9. Juni auf Nordlandreise mit Chorsätzen von Grieg, Olsson, Sven-David Sandström, Einojuhani Rautavaara und Bo Holten.
Zwei Sonderkonzerte füllen das Bouquet auf. Im Vorgriff aufs Mozartjahr 2006 locken RIAS Kammerchor und Freiburger Barockorchester unter René Jacobs am 23. November ins Konzerthaus Berlin: zu Mozarts Opera seria La Clemenza di Tito (konzertant), mit welcher beide Ensembles vier Tage zuvor im Théâtre des Champs-Elysées gastieren. (Wer Lust und das nötige Kleingeld hat, darf mitreisen nach Paris.) Mit einer Trauermusik und einer Trostmusik, den Musicalischen Exequien von Schütz und Brahms Deutschem Requiem, beschließt der RIAS Kammerchor unter Daniel Reuss am 9. April im Konzerthaus die Biennale Alter Musik Zeitfenster. Instrumentalpartner sind die Akademie für Alte Musik und die Cappella Amsterdam. Als Reiseziele winken den 35 Chorsängern außer Paris das Festival La folle journée in Nantes (mit Anschluss-Tournee nach Bilbao, Lissabon und Tokio), das Rheingau Musik Festival und das Festival de la Vézère.
Unter dem Motto Einklang und Widerhall hatte sich der Freundeskreis des RIAS Kammerchors schon für die vorige Spielzeit etwas ganz Besonderes ausgedacht: so genannte Forumskonzerte, in denen sich Chormitglieder an architekturhistorisch reizvollen Orten, die den Krieg überdauert haben und sonst nicht ohne Weiteres zugänglich sind, als Gesangssolisten hervortun. In Zusammenarbeit mit dem musikpädagogischen Dienst der roc berlin beteiligt sich der RIAS Kammerchor auch wieder an den Berliner Märchentagen. Thema diesmal: Der Schweinehirt. Szenisches Märchenspiel nach Hans Christian Andersen mit Musik nach Mozart eine neue Form musikalischen Mitmachtheaters, das Berliner Grundschulklassen mit Solisten des RIAS Kammerchors und Musikern des Rundfunk-Sinfonieorchesters Berlin zusammenbringt.
WDR Rundfunkchor Köln: Brahms und Sufi
Vielseitigkeit des Repertoires ist auch beim WDR Rundfunkchor oberstes Gebot, wobei die Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Partituren ähnlich dem SWR Vokalensemble Vorrang genießt. Mit zwei bis drei Uraufführungen pro Jahr steht die neue Chormusik bei den Kölnern traditionell hoch im Kurs. Als Chor des Senders ist der WDR Rundfunkchor freilich in erster Linie die Stimme des WDR Sinfonieorchesters und des WDR Rundfunkorchesters. Chefdirigent Rupert Huber, vormals Leiter des Südfunkchors, hält die 48 Stimmen des Rundfunkchors nicht nur in Köln und in Nordrhein-Westfalen präsent, dem bevölkerungsreichsten Sendegebiet Deutschlands. Er schwärmt auch gern hinaus in die Welt. Auf der Reiseliste des Rundfunkchors stehen die Berliner und Wiener Festwochen, die Biennale Venedig, das Stockholm- und das Flandern-Festival, aber auch außereuropäische Städtenamen wie Jerusalem, Boston, Cleveland, Washington, New York, Tokio und Osaka.
Dass beschränkte Mittel den Findegeist anregen, zeigt die aktuelle Saisonbroschüre, die man sich als Jahreskalender an die Wand hängen kann. Darin lenkt Huber den Blick gleich auf die Programmreihe Brahms und
, die man eher in Wien oder Hamburg vermuten würde. Zuordnungen wie Brahms und Volksmusik oder Brahms und Märchen liegen auf der Hand, bei Brahms und Körpersprache oder gar Brahms und Sufi stutzt man erst einmal. Bei genauerem Hinsehen, vor allem natürlich beim späteren Hinhören und Hinsehen, wird allerdings klar, dass Huber die Zuordnungen aus dem Bedeutungshorizont der vertonten Texte herleitet.
In einem Brahms und
-Konzert der vorigen Spielzeit tauchte zum Beispiel eine Schamanin aus Nepal auf, kreiste der Abend doch um die Idee der Großen Mutter (Muttergottes Magna Mater). Um Brahms und Körpersprache geht es Anfang September während der Ruhr-Triennale (9. September in Bochum, 11. September in Wuppertal): drei unterschiedlichen Traditionen verpflichtete Tänzer wagen den Versuch, sich vier Vokalwerken von Brahms Altrhapsodie, Gesang der Parzen, Nänie und Schicksalslied choreografisch zu nähern. Rupert Huber stellt zwei Kompositionen seiner Werkreihe Modem dazu, die den Körper auf unterschiedliche Weise ansprechen zum einen mittels dreier im Raum verteilter Tamtams, zum anderen durch Menschenstimmen und Schalenglocken (auf zwei Gedichte von Rose Ausländer). Der Abend Brahms und Volkslied verbindet des Meisters Deutsche Volkslieder für gemischten Chor mit steinzeitlichen Urlauten eines Joik-Sängers aus dem finnischen Samiland (8. April in Essen, 9. April in Köln). Gegen Saisonende begegnen Brahms geistliche Motetten der Spiritualität traditioneller Sufi-Musiker aus dem Nil-Delta. Mit seiner Komposition Rosa mystica wird Huber den WDR Rundfunkchor am Ende unmittelbar mit den Sufi-Musikern zusammenbringen (8. Juni in Siegen, 10. Juni in Essen).
Die Brahms und
-Reihe ist natürlich darauf angelegt, neue Hörerschichten hinzuzugewinnen und zu binden, ohne die angestammten Liebhaber Brahmsscher Chormusik zu vergraulen. Zumal der WDR Rundfunkchor keine Abo-Reihe auflegt. Warum nicht? Weil sechzig Prozent der Arbeitszeit unseres Chors den WDR-Orchestern gehört. Das gilt für Proben, Aufführungen und Einspielungen aller Werke, welche die Mitwirkung eines Chors erfordern, erläutert Chormanagerin Patricia Just. Zum Thema Langzeitstrategie nennt sie zwei Aspekte: die Vergabe von Kompositionsaufträgen und die Bestellung eines saisonbegleitenden Hauskomponisten. Der Tallinner Komponist Erkki-Sven Tüür schmückte die Estland-Tournee des Chors 2004 mit einer ihm gewidmeten Meditatio. In der gegenwärtigen Jubiläumssaison des Westdeutschen Rundfunks schreibt der japanische Komponist Toshio Hosokawa als Composer in Residence ein neues Chorstück. Im Januar 2006 begeht der WDR nämlich seinen 50. Geburtstag (Anfang 1955 spaltete sich der vormalige NWDR in eine norddeutsche und eine westdeutsche Sendeanstalt). Mit zwei Festkonzerten wird der WDR das denkwürdige Datum feiern.
Was die Nachwuchsförderung betrifft, so bietet der WDR Rundfunkchor Gesangsstudierenden der Kölner Musikhochschule die Möglichkeit, ein Praktikum zu absolvieren, das ihnen das Berufsbild des Rundfunkchorsängers näher bringt mit der Chance, als Aushilfe oder längerfristig für eine Vakanz einzusteigen. Die Planung von Probenbesuchen, Kinder- und Jugendkonzerten samt Erstellung von Unterrichtsmaterialien obliegt dem Orchestermanagement des Senders.
NDR Chor: Für schräge Töne einstehen
Im Zusammenspiel mit dem Hamburger Landesmusikrat haben sich neuerdings Kontakte zwischen Kinder- und Jugendchören, Musiklehrern und Schulklassen der Hansestadt und dem NDR Chor ergeben. Die meisten Jugendlichen kennen die menschliche Singstimme heute ja nur noch elektronisch verstärkt, meint die Altistin Ina Jaks. Für viele Kinder sei es eine ungeheure Überraschung, plötzlich zu erleben, wie schön naturbelassene Gesangsstimmen klingen können: ohne Mikrofon, Mischpult und Fonpower. Dem Chorvorstand wie der Chorredaktion sei entschieden daran gelegen, Schulkindern Gelegenheit zu Probenbesuchen zu geben und ihnen anschließend im Konzert die vordersten Plätze einzuräumen.
Nachdem die vor noch nicht allzu langer Zeit drückende Sorge, biologisch abgewickelt zu werden, gegenwärtig in den Hintergrund getreten ist, sehen die derzeit 32 Damen und Herren des NDR Chors wieder etwas gelassener in die Zukunft. Sie freuen sich ihrer hochkarätigen Gastdirigenten, unter ihnen Robin Gritton als Nummer eins. Tatsächlich kündigt die aktuelle Saisonübersicht etliche Ereignisse an, die man sich ungern entgehen lassen möchte, zuvörderst das gemeinsame Sonderkonzert der NDR-Redaktionen Das Alte Werk und das neue werk zum 500. Geburtstag des elisabethanischen Komponisten Thomas Tallis, auch wenn dessen berühmte 40-stimmige Motette Spem in alium mangels Masse nicht zur Aufführung gelangt. Vor den A-cappella-Block des altenglischen Jubilars stellt Gastdirigent Robin Gritton couragiert zwei Werke des 1987 gestorbenen New Yorker Avantgardisten Morton Feldman (23. Oktober). Neugier wecken auch die achtzehn liturgischen Psalmen für Soli, Chor und Orgel von Louis Lewandowski, dem Erneuerer der Synagogenmusik im 19. Jahrhundert (18. November in Hannover, 19. November in Hamburg). Natürlich ist der Radiochor bei der Hamburger Mozart-Nacht des NDR zum Anbruch des Mozart-Jahrs 2006 mit von der Partie (27. Januar), ebenso wie bei der konzertanten Aufführung der Wiener Fassung von Glucks Oper Orfeo ed Euridice unter Marcus Creed in der Laeiszhalle (3. Februar).
Seit eh und je steht der NDR Chor für die schrägen Töne zeitgenössischer Komponisten ein dank seiner unbeugbaren Fähigkeit, sich im tonartfernen Klangraum notfalls mit Stimmgabel zu orientieren und, wenn es sein muss, die abenteuerlichsten Maulwerkereien zu veranstalten. Ob ein projektweise zusammentelefonierter, semiprofessioneller Chor das genauso gut könnte, darf ernsthaft bezweifelt werden. Jedenfalls ist Matthias Pintscher froh, dass ihm für sein kompositorisches Selbstporträt, das er im Rahmen des neuen werks am 10. Februar im Rolf-Liebermann-Studio des Senders liefern wird, Sinfonieorchester und Chor des NDR als willige Vollstrecker zu Gebote stehen.