Dambitsch, David

Weil ich überall auf der Welt zu Hause bin

Das Leben des Berliner Philharmonikers Hellmut Stern. Mit Erinnerungen von Hellmut Stern und Daniel Barenboim

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Hörbuch, AIR Play-Audio ISBN 978-3-935168-64-9
erschienen in: das Orchester 12/2007 , Seite 75

Die anmutigste ist die Begegnung zwischen dem kleinen und dem großen Stern. Die erschütterndste ist die Erinnerung an die Mutter, die im schlimmen Russland-Winter mit Handschuhen Klavier spielt, nachdem ihr wegen Vitaminmangels die Fingernägel abgefallen sind. Die vielleicht bedenkenswerteste ist die Schilderung der in die Taschentücher schluchzenden alten Abonnenten bei der Israel-Tournee 1990.
Anekdoten sind es, die wir hier hören, Anekdoten über Musik und das Leben, historische Momente über Judentum und Nationalsozialismus. Viele Jahrzehnte, Machthaber und Orchester hat Hellmut Stern erlebt; er hat sein eigenes Judentum gelebt, wurde verfolgt, wanderte nach China aus, spielte in Israel, St. Louis, Chicago. Irgendwann begegnete der kleine Stern – Hellmut – dem großen Stern – Isaac –, der ihn für ein Probespiel beim Israel Philharmonic Orchestra empfahl: der Beginn nicht nur einer wunderbaren Freundschaft, sondern auch einer internationalen musikalischen Betätigung.
In Zeiten politischer, musikalischer, menschlicher Unterdrückung hat Stern gelernt, zwischen Kunst und Person zu unterscheiden. Stern „wusste, dass Wagner ein Schwein war“ – dennoch lobt er seine Werke. Stern fragt, wie das „Monster Hitler“ die Musik lieben konnte. Stern meint, „Karajan war kein Nazi“.
Mit nicht nur musikalischer, sondern vor allem auch mit erzählerischer Begabung berichtet der Geiger Hellmut Stern von seinem Leben an vielen Orten der Welt. An sein und ihr gemeinsames Leben erinnert sich auch sein Freund, Kollege und Chef Daniel Barenboim, mit dem Stern das erste Israel-Gastspiel der Berliner organisierte und durchführte. Immer wieder singt Stern ein leises Loblied auf „sein“ Orchester, die Berliner Philharmoniker, denen er 33 Jahre angehörte und deren Zukunft er positiv beurteilt: „Für die nächsten 125 Jahre ist gesorgt.“
Im Sinn des wunderbaren Menuhin widmet sich Hellmut Stern – noch intensiver seit Beendigung seiner Orchestertätigkeit im Jahr 1994 – der politischen Aufklärung vor allem hinsichtlich rechtsradikaler Bewegungen. Er nennt sich selbst einen „Berufszeitzeugen“.
Sterns Musikalität und Universalität waren für den Journalisten David Dambitsch Grund genug, derlei Anekdoten und Dokumente zu bündeln und zu kommentieren. Entstanden ist ein reizvolles, unterhaltsames Werk, ein Zeugnis persönlicher Zuneigung, dem es für eine musikalisch geprägte Hörerschaft zwar an Hörbeispielen mangelt, sodass ihm womöglich kein übermäßiger Absatz im Klassik-CD-Regal beschwert sein wird. Insbesondere dem jüngeren Publikum nämlich ist Hellmut Stern nicht (mehr) bekannt. Seine Berichte und Ansichten indes sind zeitlos: Die „höchste Errungenschaft der Menschheit“ seien die großen klassischen Werke, rein geistig, frei.
Carola Kessler