Shchedrin, Rodion
“Was man schreibt, ist unantastbar”
Autobiografische Notizen
“Zeichnen Sie unsere Welt nicht nur schwarz-weiß, meine Herrschaften”, schreibt Rodion Shchedrin inmitten seiner soeben erschienenen autobiografischen Notizen. Der Adressat dieser Aufforderung? Nun ja, es werden einige sein: der Leser natürlich, der nach der Lektüre dieses Buchs weit davon entfernt sein wird, nur in zwei Dimensionen zu denken, aber auch Zeitgenossen, die ihre Sichtweise allzu einfach kategorisiert haben, Kritiker und Musikologen, die einen simplifizierten Musik-Politik-Kosmos der Sowjetunion und Russlands entworfen und zu Papier gebracht haben, nicht ausgeschlossen…
Denn das, das erfährt man in dem Bericht, der sich spannend wie ein Roman liest und doch eigentlich ein Tatsachenbericht ist, wäre eine Verfehlung sondergleichen. Der erfolggekrönte russische Komponist und Künstler wirft ein Licht auf das Leben von Musikern vor und nach dem Tauwetter in Osteuropa, ohne damit abzurechnen. Es ist die Geschichte eines Lebens, die erzählt wird, in Bescheidenheit, aber ohne tiefzustapeln, in einer Offenheit, die alles erhellt, aber nicht angreift, mit einer Ironie, die kritische Situationen durchwirkt, aber ihnen dadurch eine versöhnlich-heitere Wendung gibt. Mit anderen Worten: Diese Biografie ist auch eine Geschichtsschreibung der sowjetisch-russischen Musik und Kulturpolitik der vergangenen rund sechzig Jahre und wirft dabei ihre Scheinwerfer auf das globale Musikleben.
Viele bekannte Namen kommen darin vor und erhalten durch die Begegnungen mit Shchedrin Fleisch und Menschlichkeit. Aram Chatschaturjan beispielweise, den Shchedrin schon als Heranwachsender kennen lernt, oder Dmitri Schostakowitsch, Mstislaw Rostropowitsch, Lorin Maazel und Mariss Jansons. Sie alle gehören zum bewegten Leben des Rodion Shchedrin dazu, begegnen ihm auf russischem, später internationalem Boden zwischen Moskau, München, New York und Pittsburgh. Ihm zu Ehren werden Festivals veranstaltet, fliegen Interpreten um die Welt. Ein ganzer Fundus von Kuriositäten, ob sie nun Situationen betreffen oder Persönlichkeiten wie die Dirigentin Sarah Caldwell, die ihn in der Trainingshose unter dem Kittelkleid und mit Turnschuhen an den Füßen empfängt, macht dieses Buch liebens- und lesenswert. Hinzu kommt eine Auswahl reizvoller Fotos, die den Komponisten mit Komponisten- und Künstlerkollegen, bei verschiedenen Anlässen, privat und mit seiner Frau, der Primaballerina Maija Plissezkaja zeigen. Überhaupt Maija Plissezkaja: Dieses Buch ist auch eine Liebeserklärung an die große Tänzerin, für die Rodion Shchedrin Ballettmusiken wie Carmen-Suite, Anna Karenina oder Die Möwe schrieb.
Gibt es eine Essenz dieser Aufzeichnungen? Ja, gibt es: Rodion Shchedrin hat viele Fragen gestellt: Was ist ein Komponist? Hat es in der Musik der Sowjetunion Dissidenten gegeben? Er findet jedes Mal eine Antwort: manchmal aus der Logik entwickelt, manchmal philosophisch.
Sabine Kreter