Meyer, Andreas (Hg.)
Was bleibt?
100 Jahre Neue Musik
Das Buch, Band 1 der Stuttgarter Musikwissenschaftlichen Schriften, versammelt neun Vorträge, die von einer Konzertreihe begleitet waren. Ihre Absicht ist es, Wege und Werte, Bilanz und Perspektive der Neuen Musik zu thematisieren. Beim Leser weckt der Titel Erwartungen, was die gut 200 Seiten an neuen Sichten und Akzenten parat haben. Und dem Herausgeber dient er zu Pointierungen für Verweise auf das Paradoxe Neuer Musik, Innovation und Tradition unter einen Hut zu bringen und auf Versuche, deren Beginn zu datieren.
Die Texte aber nehmen die Musikentwicklung unter verschiedenen Prämissen in den Fokus: Neu und neu, zeitgenössisch und avantgardistisch, modern und postmodern. Sie lassen das Prinzip Offenheit walten und richten sich an Realitäten und weniger an Denkfiguren aus, bringen Diskurse voran und folgen dem eigenen Erkenntnisweg: Die Idee einer Avantgarde, einer Musikkultur, eines Musikbegriffes ist illusorisch (Andreas Meyer). Prinzipielle Betrachtungen und Einzel-Analysen, punktuell in einer Art Momentform abgehandelt, bilden eine lose Chronologie. Sie hinterfragt jene Kontinuität der Neuen Musik, deren Anfänge im Zeichen Schönbergs, Strawinskys und Debussys am Beginn
des 20. Jahrhunderts liegen, die in dessen erster Hälfte klassische Konturen annimmt und nach 1945 einen Modernisierungsschub erhält, von Krisen heimgesucht wird und der Postmoderne weicht.
Meyers Beitrag öffnet mit Nachdruck den Neue-Musik-Begriff, indem er nicht nur die Emanzipation der Dissonanz, sondern auch den Einfall des Volkstümlichen, Primitiven und Populären als Indiz ihres Fortschritts gelten lässt und dazu Schönbergs 2. Streichquartett (1908) zum Ausgangspunkt einer anderen Geschichte wählt: Neue Musik als musikalische Anthropologie. Joachim Kremers kritischer Rückblick auf eine Historiografie, die sich der Vielfalt der Erscheinungen verwehrt und die Innovationstauglichkeit aller musikalischen Parameter apodiktisch in Abrede stellt, folgt ihm darin. Christopher Hailey beschreibt anhand von Schönbergs Erwartung (1909) das Ende der dramatischen finalen Form, den Wandel von Zeitgestaltung und Zeiterfahrung, als weiteres wesentliches Kriterium Neuer Musik, auf das auch Gianmario Borio und Diedrich Diedrichsen anhand der Integration des Exotischen ins westliche Komponieren bzw. der Veränderung von Syntax und Formen in Pop-Avantgarde und Minimal Music aufmerksam machen.
Die Texte von Sointu Scharenberg zum Weg der Neuen Musik in die deutsche Musikpädagogik und von Matthias Tischer über die Musik in der Ära des Kalten Krieges bringen politische Aspekte ins Spiel und Vergleiche (kaum klischeefrei) mit DDR-Musik. Und während sich Simone Heilgendorff der Analyse als Mittel zum Verstehen des musikalischen Gewebes versichert, stellt Hermann Danusers Epochenblick auf die Postmoderne die Relationen zwischen Neo-Historismus und emphatischer Moderne, ihre Pluralität und Sprachenvielfalt heraus und sieht sie weiterhin auf dem Vormarsch.
Eberhard Kneipel