Walter Felsenstein Edition

Rubrik: DVDs
Verlag/Label: Arthaus Musik, Katalog-Nr.101305, 12 DVDs und Begleitheft
erschienen in: das Orchester 06/2008 , Seite 69

Er gilt vielen gewissermaßen als Urvater des Regietheaters: Walter Felsenstein, dessen große Karriere eng mit der Geschichte der Komischen Oper Berlin verknüpft ist, deren Leitung er 1945 nach dem Krieg übernahm. 29 Jahre lang prägte Felsenstein an diesem Haus mit einem festen Ensemble ein Musiktheater, das sich durch eine gleichberechtigte Partnerschaft von Gesang und Darstellung auszeichnete.
Doch alle künstlerischen Zeugnisse des 1975 verstorbenen gebürtigen Wieners – fünf grandiose Opernfilme und zwei Mitschnitte von Bühnenaufführungen (Mozarts Figaro und Don Giovanni) – schlummerten Jahrzehnte in Archiven. Nur selten strahlte das Fernsehen den einen oder anderen aus, sodass jüngere Generationen kaum noch konkrete Vorstellungen von Felsensteins großer Theaterkunst haben.
Das wird sich bald hoffentlich ändern. Denn erstmals liegt nun in einer prächtig ausgestatteten Box Felsensteins komplettes filmisches Vermächtnis in restaurierter Fassung vor, das auch kostbares Archiv- und Audiomaterial umfasst: Auszüge aus historischen Wochenschauen, Probenausschnitte, Interviews, Kommentare und Analysen des international bedeutenden Regisseurs.
Zehn Jahre lang hat Felsensteins Sohn Christoph dafür gekämpft, eine solch anspruchsvolle, umfangreiche Edition auf die Beine zu stellen, für die er zunächst angesichts höchst komplizierter, teurer Restaurationsverfahren einen Sponsoren finden musste. Der Aufwand hat sich gelohnt, denn das Ergebnis ist eine außergewöhnlich reich und kostbar ausgestattete Edition, die weit mehr ist als nur eine Hommage an den Wegbereiter des Opernfilms.
Es sind zeitlose, ungemein packende Theatererlebnisse, die einen hier erwarten und offenbaren, auf welchen Irrwegen sich heute manche Trendsetter bewegen, die sich gern auf Felsenstein berufen, ihn aber falsch verstehen. Denn Felsenstein hat sich nie vom Urheber distanziert, geschweige denn etwas hinzugedichtet oder die Handlung abgeändert. Im Gegenteil: Italienische Libretti übersetzte er, der aus einem volksnahen Anspruch heraus grundsätzlich alle Opern in deutscher Sprache aufführte, oft neu, um wortwörtlicher an den ursprünglichen Textsinn heranzukommen. Seine präzisen detaillierten Erläuterungen an Einzelbeispielen zählen zu den erkenntnisreichen, staunenswerten Überraschungen dieser Ausgabe, die etwa Max Kalbecks deutsche Erstübersetzung von Verdis Othello als falsch und unverständlich entlarvt.
Felsensteins Othello (1969) ist als Opernfilm ohnehin einmalig und im Mienenspiel der Sänger noch packender als der legendäre Karajan-Film mit Mirella Freni und Jon Vickers. Kaum mehr als ein paar Beleuchtungswechsel und etwas Wind braucht Felsenstein in der ersten Szene, drückt sich doch das gefährliche Unwetter ganz allein in den panischen Bewegungen der Menschenmasse aus.
Der Opernfilm bezeugt dabei gegenüber der Bühneninszenierung unter Einsatz filmischer Mittel eine eigene Qualität: Die Mimik des Mohren, sein Argwohn, seine innere Qual, seine Raserei und an Wahnsinn grenzende Wut oder auch die nackte Angst im Gesicht Desdemonas in ihrer Todesstunde – all das kommt in der Nahaufnahme besonders stark heraus. Und wenn die Figuren ihren Gedanken nachhängen oder einen inneren Monolog führen, spielt sich das Geschehen bei geschlossenen Lippen nur noch in den Augen ab.
Zu den Perlen dieser auch vom Design her anspruchsvoll-originell im ehemaligen Langspielplattenformat gestalteten Edition, die Felsenstein gleichermaßen als Meister des Tragischen und Komödiantischen (Ritter Blaubart, Hoffmanns Erzählungen, Die Hochzeit des Figaro) feiert, zählt gewiss auch Janác?eks Schlaues Füchslein. In dieses bis dato kaum aufgeführte Randrepertoirestück hatte sich der Theaterbesessene besonders verliebt. Es war der philosophische Ansatz Janác?eks, der ihn bewegte – dessen Mitgefühl mit einer dem Menschen chancenlos unterlegenen Tierwelt. Kaum zu glauben, dass es überwiegend Kinder sind, die hier in fantasievollen Kostümen verblüffend authentisch Grillen, Frösche, Füchse oder Vögel imitieren. Auch im Prozess der Restauration nahm das Füchslein eine Sonderstellung ein. „Der Film war in einem desolaten Zustand und galt schon als nicht mehr sendefähig“, bemerkt Christoph Felsenstein, der digitale Tricks anwenden musste, um einige nicht mehr vorhandene Bildsequenzen zu kaschieren.
Eine reiche Sammlung von aufschlussreichen faksimilierten Originalhandschriften, Manuskripten, Zeichnungen und Illustrationen aus dem Nachlass Felsensteins runden eine wunderbare Kassette ab, die nur leider für ein Publikum mit kleinem Geldbeutel, in dessen Dienst sich Felsenstein allerdings in besonderer Weise stellte, kaum erschwinglich ist. Bleibt zu hoffen, dass auf diese ohnehin limitierte Ausgabe bald noch preiswertere Einzelausgaben folgen werden.
Kirsten Liese

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