Delle Cave, Ferruccio / Gerhard Fasolt
Von Meran nach Jena
Max Reger
Max Reger: Bipolar gestört, trunk- und esssüchtig, nikotinabhängig, herzkrank, zitieren Ferruccio Delle Cave und Gerhard Fasolt in ihrem verschwenderisch mit farbigen Reproduktionen von Manuskripten, Titelblättern, Postkarten, Briefen oder Fotografien ausgestatteten, schönen Reger-Buch aus der Krankengeschichte der Komponisten, und weiter: Das Tragische ist die Uneinsichtigkeit oder das Unvermögen, drohende bzw. eindeutig sichtbare Gefahren abzuwenden und einen in jeder Hinsicht ausschweifenden Lebensstil abzustellen.
Man mag das Zitieren aus solchen Gutachten als peinlich-voyeuristisch abtun und verachten und muss doch zugeben, dass sie den Komponisten dem Leser unmittelbar nahebringen, ihn gewissermaßen verlebendigen; und zudem machen sie doch auch neugierig auf die Musik, die solch einem Leiden und Leben abgewonnen wurde, eine Musik, die dann mit ihrer bestechend originären Faktur nur umso rätselhaftere Züge anzunehmen scheint.
Reger erholte sich im März und April 1914 im Sanatorium Martinsbrunn in Meran von einem physischen und psychischen Zusammenbruch, der zum für einen Komponisten geradezu tragischen Verlust seiner inneren Musikvorstellung führte. Ich kann keine Musik mehr hören, soll er Fritz Stein gestanden haben, in mir ist alles still. Delle Cave und Fasolt tragen alle, wirklich alle Einzelheiten zu Regers Kur zusammen, die ihn rasch genesen ließ, zitieren die Briefe und Postkarten, die er in dieser Zeit seiner Frau schrieb, führen die Werke an, die Reger zur Erholung dort komponierte oder auch vorplante, stellen aber auch Regers Verhältnis zu kompositorischen Vorbildern (von Bach bis Brahms) sowie zu seinen Zeitgenossen (u.a. Wolf, Strauss, Thuille, Busoni, Schönberg) dar. Sie skizzieren Züge des Regerschen Spätwerks und seinen Einfluss auf jüngere Komponisten wie Prokofiew und Hindemith.
Stephan Kofler steuert einen Beitrag zu den späten Orgelwerken bei. Wir erfahren aufschlussreiche biografische Einzelheiten, etwa zu Regers Stellung in Meiningen und seinem Verhältnis zum Meininger Fürsten, oder auch zum offenbar nicht immer harmonischen Eheleben, das in Elsa Regers Erinnerungen verständlicherweise allzu sorglos geschildert wurde.
Als besonders wertvoll erweisen sich vor allem die zitierten Einträge im Tagebuch von Fritz Stein, der Reger nach Meran begleitete, etwa dessen Bemerkungen zur Fugenkomposition, Hinweise zur Interpretation von Klavierliedern Schumanns oder Brahms sowie vor allem die Überlegungen zur Sinfonie-Komposition mit ungemein aufschlussreichen Bemerkungen über Instrumentierung, die genau die spätere Entwicklung der Gattung antizipieren. Und die im Tagebuch zitierten Hinweise Regers zu den Präludien und Fugen für Violine solo op. 131a, die er in Meran schrieb, sollte jeder Geiger kennen, der diese Werke studiert. Die Herausgeber kommentieren alle Dokumente ungemein gewissenhaft und anschaulich; auf diese Weise führen sie geradezu authentisch in Regers Leben und spätes Schaffen ein.
Giselher Schubert