Knauer, Bettina / Peter Krause (Hg.)

Von der Zukunft einer unmöglichen Kunst

21 Perspektiven zum Musiktheater

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Aisthesis, Bielefeld 2006
erschienen in: das Orchester 09/2006 , Seite 80

Als Kommunalpolitiker der Hansestadt Lübeck kürzlich die Schließung des Stadttheaters erwogen, schlug ihnen der scheidende Intendant des wagemutigen Dreispartenhauses vor, dann doch gleich die ganze Stadt abzuschaffen.
Noch bevor die hansischen Nachbarn ihren Krämergeist offenbarten, hatte sich der Hamburger Kulturökonom Peter Bendixen unter der provokanten Überschrift „Die Oper – ein sterbender Koloss?“ gefragt: „Sind wir etwa jetzt mit oder ohne Rousseau auf dem Wege des Rückzugs aus der Kultur, indem wir das Tierische in uns, das immer schon da war, wieder zum Vorschein bringen?“ Kulturpolitik sei sich offenbar der fundamentalen Bedeutung und Fragilität der Kultur nicht mehr bewusst. Sie habe ihre Unschuld an den „kategorischen Imperativ“ der Ökonomie, die Wirtschaftlichkeit, abgegeben. Wie Nike Wagner, die Intendantin des Weimarer Kunstfestes, sieht er die Zukunftsfähigkeit des Musiktheaters abhängig vom Stand der ästhetischen Bildung.
„Im Angesicht unserer eigenen Abschaffung reagieren wir Theaterschaffenden nicht überlegt oder kreativ, wie es unser Anspruch fordern sollte, sondern mit dem Trotz derer, die um ihren Besitz bangen“, findet Andreas Bode, zweitjüngster Mitstreiter im Meinungs-Chor des Sammelbands, der seinen Anstoß dem 30-Jahr-Jubiläum des Hamburger Studiengangs Musiktheater-Regie im November 2003 verdankt. Selbst Absolvent dieses Studiengangs, der sich inzwischen zur Theaterakademie reformierte, tat sich Bode mit fantasievoll sinnschärfenden Produktionen ohne Pop und Müll in der Hamburger Theaterfabrik Kampnagel hervor. Er weiß, was Regie-, Schauspiel- und Gesangstudierende schon im ersten Studienjahr umtreibt: die Jagd auf einen der wenigen Spielplätze an der Sonne. „In den Mittelpunkt der Ausbildung rückt die Frage, wie man sich eine überlebensfähige Stellung sichern kann… Gefälligkeit und Anpassung sind die Folge.“ Fantasie – das geistige Grundkapital jedweder Kultur – verkomme so zum „wirtschaftlichen Risikofaktor“. Nur sys-tem-unabhängige Theatermodelle könnten diesem Zustand abhelfen, ist Bode überzeugt. Er mahnt gesetzliche Maßnahmen an, die der Bildung freier Theatergruppen und Orchester förderlich sind – bei gleichzeitiger Überprüfung des Verhältnisses von Subventionierung und Kunstgewinn an staatlichen Theatern.
Ähnliche Gedanken bewegen den Koordinator des 1973 von Götz Friedrich gegründeten Studiengangs und Leiter der Opernreihe „junges forum musiktheater“ in der Hamburger Hochschule für Musik und Theater, Peter Krause. Er malt sich eine „neue Gründerzeit des Musiktheaters im 21. Jahrhundert“ aus, die der Oper zurückgibt, was sie einmal war: eine „hochsensible und sensibilisierende Schule der Sinne“. Henzes altersverklärtes Zauberflöten-Märchen L’Upupa im Sinn, wünscht er sich Oper als „Verzauberungstheater“. Das so genannte Regietheater „mit seinem intellektuellen Konzeptionalismus, dem vom überregionalen Feuilleton forcierten Diktat des Neuen und Provokativen sowie der Dominanz des Bildlichen“ erklärt Krause – im Einklang mit Hermann Rauhe, der den Studiengang einst erdachte und entwickelte – für ausgestanden und beendet. Nicht der Regisseur, sondern die singenden Menschen sollten uns Geschichten erzählen. Das Theater sollte Abschied nehmen vom „Gott der Kontingenz“ (des bezugslosen Zufalls). Wem hilft es, einen Kanon, den keiner mehr kennt, „zur Kenntlichkeit zu entstellen“? Das Heil einer „ganz neuen Vielfalt“ sieht Krause im Kammermusiktheater vorgezeichnet: kleine Besetzung, intime Räume, Publikumsnähe. Der Regisseur als Moderator alt-neuer Geschichten vom Menschen. Ohne Arena und Event.
Während Heinz-Joseph Herbort, langjähriger Feuilletonredakteur der Zeit, mit Blick auf die Kulturgeschichte der Oper fragt, was uns und den „postmodernen Uminszenatoren“ das Musiktheater (noch) wert sei, entwickelt Peter Ruzicka, künstlerischer Leiter der Münchner Biennale für neues Musiktheater und der Salzburger Festspiele, seine Zukunftsvision einer „Zweiten Moderne“. Den stilgewandten Kulturmanager und Komponisten beflügelt die Idee, das unvollendete Projekt der Moderne ließe sich quasi im dialektischen Dreischritt – über die zum „anything goes“ verflachte Postmoderne hinweg – in eine „Zweite Moderne“ hinüberretten. Es sei Sache der Künstler, ihr ein Gesicht zu geben – als „Vision einer besseren Welt oder zumindest eines besseren Werkes“. Hier hört man nicht nur Hegel, die Hermeneutiker Dilthey und Gadamer und die Denker der Frankfurter Schule „tapsen“, sondern auch Blochs „Prinzip Hoffnung“. Ruzickas konkrete Utopie einer „Zweiten Moderne in der Theaterregie“ gebiert Konzeptionen mit „intentionalem Fluchtpunkt“. Womit er sich gegen ein (postmodernes) Inszenieren erklärt, das lediglich „Ideen“ anbietet: subjektive Assoziationen und historische Anspielungen, die dem Zuschauer aufgeben, „die Sache zuende zu denken“. „Ich bin im Gegenteil der Auffassung, dass wir Künstler eine Sache zuerst einmal selber zuende gedacht haben müssen.“ Meist sagten die Komponisten „etwas sehr viel Komplexeres“ als das, was über Kurzschlüsse wie Giovanni als Reeperbahn-Zuhälter, Cavaradossi als Proto-Mussolini, Wotan als kaltschnäuziger Konzernchef, Jochanaan als Gefangener von Guantanamo zu erreichen sei.
Dazu passt der Ratschlag, den Peter Konwitschny seinem getippten Kurzbrief an die Herausgeber mit verhohlenem Grimm anfügte: „Im engeren Sinne möchte ich bei dieser Gelegenheit noch einmal darauf hinweisen, dass beim Inszenieren einer Oper die Musik zu Rate zu ziehen ist.“
Lutz Lesle