Botstein, Leon

Von Beethoven zu Berg

Das Gedächtnis der Moderne

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Zsolnay, Wien 2013
erschienen in: das Orchester 02/2014 , Seite 67

Es sind alte Fragen und immer wieder neu zur Debatte stehenden Probleme, die den international tätigen Dirigenten, Wissenschaftler und Leiter des renommierten New Yorker Bard Music Festivals Leon Botstein zu seinen sechs zwischen 1997 und 2011 entstandenen Aufsätzen gedrängt haben. Diese Arbeiten über Beethoven und Schubert, Brahms und Mahler, Schönberg und Berg sind beeindruckende Belege lebenslangen Nachdenkens über das Wie und das Warum von Musikgeschichtsschreibung – aus der (kritischen) Perspektive des Interpreten und der Konzertpraxis heraus auf die heutige Wahrnehmung der musikalischen Moderne, die Trennung der musikalischen Aufführung und Vermittlung von den anderen Lebensbereichen, auf die Verengung des Repertoires und das „Vergessen“ von Vergangenheit.
Die Funktion der Musik und die Stellung der Komponisten in der Gesellschaft, auch der Wandel des Kunst- und Wissenschaftsdiskurses im Geistesleben werden dabei zum Hauptthema und Bezugspunkt dieser Texte, die mehr sein wollen als nur Künstlerporträts oder Werkkommentare. So wird die „Suche nach der Bedeutung Beethovens“ im Spiegel von theoretischen Äußerungen über Musik seit der Mitte des 18. Jahrhunderts gesehen, wird die bis heute währende Divergenz zwischen absoluten und pogrammatischen Deutungen ausgemacht, wird dazu eine Vielzahl von Musikwissenschaftlern, Philosophen und Komponisten in den Zeugenstand gerufen. Schuberts „Verwandelte Wirklichkeit“ vertieft dann die Sicht auf Wien, auf eine reaktionäre Politik und eine tiefe soziale Spaltung, auf die Entwicklung und das Kunstleben einer Stadt, die diese Komponisten ebenso prägte wie die europäische Musikkultur und die eine der Geburtsstätten der Moderne werden wird. Was da Maler, Poeten, Musiker thematisierten, was Schubert im Alltag bedrückte – Krise und Entfremdung –, das geben seine Töne wieder: als schmerzlichen oder schönen Traum, als Fantasie, als Fragment, als Stillstand, als Zerfall von Zeit.
Und mit der Betrachtung innermusikalischer Verläufe als Widerspiegelung außermusikalischer Zeit ist ein drittes Thema exponiert, das „Zeit und Gedächtnis“ bei Brahms, mit Bezug auf die Wissenschaft vom Zeitbewusstsein und Hörempfinden, weiterführt… Und dem die Überlegungen zu Mahlers „Rezeption, Interpretation und Geschichte“, zu Schönbergs Stellung in „Modernität, Musik und Politik im 20. Jahrhundert“ und zu „Alban Berg und das Gedächtnis der Moderne“ folgen. Da erscheint der Schönberg-Schüler und Mahler-Erbe als Vorbild für die Nachwelt, der, Beethoven-gleich seine progressive humanistische Weltsicht künstlerisch innovativ äußernd, „subjektiven Ausdruck und ‚objektiven‘ Außenbezug mit einer Individualität versah, die kaum an Aktualität eingebüßt hat“ (Claus-Steffen Mahnkopf).
Solche Leistungen, Lösungen und Reflexionen zu erhellen, Musik als Teil der Vorstellungen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu begreifen – das ist das Ziel, ist die Botschaft von Botsteins vielschichtigen, facettenreichen Ansichten über die Töne und die Welt.
Eberhard Kneipel