Berg, Alban / Ludwig van Beethoven

Violinkonzerte

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Orfeo C 778 091 A
erschienen in: das Orchester 06/2010 , Seite 69

Es scheint fast so, als sei mit der Ausnahmegeigerin Anne-Sophie Mutter seinerzeit eine Lawine losgetreten worden, die vor allem Violinvirtuosinnen in die Konzertsäle und auf den Musikmarkt schwemmte. Zwar gab es auch zuvor schon große und bedeutende Geigerinnen (erinnert sei hier nur an Ida Haendel, Wanda Wilkomirska, Liana Isakadze, Ginette Neveu und andere), aber dass gleich nicht weniger als zehn junge, weibliche Violin-Weltstars mehr oder weniger zeitgleich auftreten, das hat die Musikgeschichte wahrlich noch nicht erlebt!
Wiewohl es eigentlich zu erwarten gewesen wäre, dass sie alle sich in diskografischer Hinsicht auf Beethoven, Bruch, Tschaikowsky und Mendelssohn stürzen würden (so war es jedenfalls am Beginn früherer Solistenkarrieren der Brauch), tun sie dies dankenswerterweise heute nur minderheitlich: Die jungen Damen (oder ihre Berater) finden schon ihren Spaß an Ausgrabungen, an Entlegenem – zur Freude des Konsumenten. Neben Janine Jansen, Hilary Hahn und Lisa Batiašvili hat bisher nur noch Arabella Steinbacher Beethovens Opus 61 eingespielt. Dass die Geigerin technisch über jeden Zweifel erhaben musiziert, versteht sich eigentlich von selbst: Ohne diese Grundvoraussetzung hätte sie in dem dichten Gedränge an der Weltspitze kaum eine Chance. Aber sie weiß eben auch virtuosen Glanz zu erzeugen mit einem kristallklaren Ton, mit geradezu „philosophischen“ Phrasierungen und des ungeachtet mit einer ungeheuren Sangeslust, die sich vor allem im Kopfsatz Bahn bricht! Beethovens Konzert, vom WDR Sinfonieorchester Köln unter Andris Nelsons angenehm zurückhaltend, fast kammermusikalisch, vor allem aber wohltuend unromantisch begleitet, tritt mit dem Hörer in unmittelbaren Kontakt, scheint geradezu mit ihm zu sprechen.
Sich nach Anne-Sophie Mutter an das Violinkonzert von Alban Berg zu wagen, das ist ungefähr so mutig, wie wenn man sich nach Gründgens am Mephisto, nach Minetti am King Lear versucht: Der Schatten ist riesig, aus dem man sich da heraustrauen muss, und Mutters Einspielung mit Levine ist für mich trotz eines manchmal etwas allzu polierten Orchesterklangs die Referenzaufnahme schlechthin.
Mehr noch als beim Beethoven-Konzert ist in Bergs letztem Opus die Kommunikation gefragt: Solist, Dirigent und Orchester müssen das Kunststück fertig bringen, miteinander zu verschmelzen, ohne dabei einen Musikbrei anzurühren. Hier erst recht erweisen sich Steinbacher und Nelsons als ein perfektes Tandem. In dieser Einspielung finde ich denn auch die leicht frösteln machende, ganz zarte, der Traurigkeit jedoch höchst angemessene klangliche Rauheit, die bei der Mutter-Aufnahme ein wenig zu kurz kommt. Steinbacher/Nelsons musizieren das „Andenken eines Engels“ ebenso emotional wie expressiv und reißen mit, was sich ihnen an Ohren in den Weg stellt: eine CD fürs ganze Leben!
Friedemann Kluge

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